Felsen der Apokalypse

Inselhüpfen in der Ostägäis (2. Teil)

Nach neun erlebnisreichen Tagen auf Sámos stehen wir an einem Mittwoch morgen im Mai 2002 mit unserem ganzen Gepäck – Koffer, Rucksäcke, Autokindersitz, Foto- und Videoausrüstung – auf der antiken Hafenmole von Pythagório und warten auf die kleine Autofähre 'Nisos Kálymnos'. Unsere sehr engagierte Reiseleiterin, eine in Deutschland aufgewachsene Griechin, hat sich alle Mühe gegeben, damit wir zu einer angenehmen Tageszeit auf diese traditionelle Art zum nächsten Eiland tuckern können. Das inzwischen vor allem bei den Einheimischen beliebtere Tragflügelboot 'Flying Dolphin' ist zwar deutlich schneller, aber auch teurer und wenig attraktiv für Fans des maritimen Reisens, wie mich und meinen knapp vierjährigen Sohn. Man sieht kaum etwas von der Inselwelt, weil es aufgrund der peitschenden Gischt ratsam ist, die meiste Zeit unter Deck des Bootes zu verbringen – mich erinnert diese Atmosphäre an ein Flugzeug und nicht an das Eintauchen in die gleißende Ägäis.

Dann doch lieber 3 Stunden mythische Phantasien spinnend auf dem Oberdeck herumsitzen, ab und zu einen schwankenden Gang über die verschiedenen Ebenen des Schiffs einlegen und während der Zwischenstopps die Aufregung in den Häfen sonst verschlafener kleiner Inseln erleben. Unabhängig von der Wetterlage bei der Abfahrt gehören grundsätzlich Jacke, lange Hose und Strümpfe ins Handgepäck – auf See kann es sehr schnell unangenehm kühl werden und man will sich ja nicht wie ein Weichei in der Kabine verkriechen. Für die immerhin rund 50 Kilometer Luftlinie von Sámos nach Pátmos sind laut Ticket 5,50 Euro pro Person fällig – eine doch nach wie vor sehr preisgünstige Art des Reisens und der Kleine fährt sogar umsonst. Indirekt haben wir über Attika natürlich deutlich mehr bezahlt, weil in diese Kalkulation sowohl die Transferkosten von der Unterkunft zum Abfahrtshafen und vom Ankunftshafen zum Hotel sowie der Service der Reiseleitung vor Ort (Ticketkauf, zusätzliche Fahrten ins Appartement) mit einfließen. Das hat in erster Linie mit Bequemlichkeit und nicht etwa mit unserer vermeintlichen Blödheit zu tun.

Planmäßig fahren wir zunächst über offenes Meer und erreichen nach etwa einer Stunde Agathoníssi. Minutenlang schippern geht es an mit spärlicher Macchia bewachsenen Felshügeln vorbei, bevor sich plötzlich die gut geschützte Bucht von Ágios Geórgios, dem Hauptort des Inselchens, öffnet. Während sich die Fähre dem Hafen nähert, bricht am Ufer die Hektik aus. Die rund 150 Einwohner der Insel dürften alle anwesend sein. Auch sämtliches Baumaterial, Zementsäcke und Ziegelsteine, kommt auf diesem Weg an Land, denn es steht originalverpackt in unmittelbarer Nähe des Anlegers. Einige Lieferwagen werden hin- und herrangiert und große Pakete bereitgestellt. Der aus Samos angereiste Pope für die Gottesdienste auf Agathoníssi verlässt das Schiff und eine Gruppe bewaffneter Soldaten zelebriert lautstark den Abschied von ihren Liebsten. Irritiert beobachte ich, wie die jungen Männer in Tarnanzügen mit Sturmgewehren die zivile Personenfähre entern. Wie erklär´ ich das bloß dem Kleinen? Als die ersten das Deck erreichen, stelle ich erleichtert fest, dass außer den pausenlos im Einsatz befindlichen Handys, keine weiteren bedenklichen Gerätschaften mit herumgeschleppt werden. Offensichtlich hat der Kapitän das Waffenarsenal vorsorglich unter Verschluss genommen.

Wir legen wieder ab und nehmen Kurs auf das vor Pátmos liegende Inselwirrwarr von Arkí, Lípsi und Maráthi – zusammen von nicht einmal tausend Menschen bewohnt. Eigentlich sind hier weitere Stopps geplant, aber das Wetter und somit der Seegang hat sich inzwischen so verschärft, dass sich ein Manöver durch das von gefährlichen Klippen gespickte Wasser zu den winzigen Häfen verbietet. Längst haben wir die wärmere Kleidung übergestreift, denn es ist bewölkt und bläst ungemütlich.

Sobald wir dieses Nadelöhr passiert haben, bewegen wir uns ohne Umwege direkt auf das vom griechischen Parlament zur heiligen Insel erklärte Pátmos zu. Die Einfahrt in den Hafen von Skála gehört angeblich zu den beeindruckendsten Erlebnissen einer Ägäisreise: Das hoch auf einem Berg gelegene festungsartige Johanneskloster und die umgebende Stadt Chóra soll schon von weitem sichtbar sein, ehe man in das tief ins Landesinnere einschneidende natürliche Hafenbecken hineinfährt. Nur leider sehen wir davon kaum etwas, denn das Wetter macht uns einen Strich durch die Rechnung. Man ist umgeben von unüberschaubaren Landmassen und irgendwie hängen diese alle zusammen. Pátmos ist dermaßen zerklüftet, dass auf den ersten Blick kaum erkennbar ist, ob ein Felsen zur Insel gehört oder einfach nur vorgelagert ist. Zugleich ist es verhältnismäßig klein, so dass Reiseveranstalter noch nicht einmal pauschale Mietwagen anbieten.

Skála und die nördliche Landenge

Am Hafen werden wir schon vom Reiseleiter und einem Großraumtaxi erwartet. Der Fahrer heizt mit uns und zwei anderen Touristen durch die haarsträubend schmalen Gassen von Skála – Bürgersteige oder Platz für den Gegenverkehr gibt es nicht. Zum Glück sind wir schnell auf der einzigen Landstraße und passieren auch gleich eine der beiden extremen Landengen von Pátmos: Lediglich 400 Meter Luftlinie liegen hier zwischen dem Ende des langgezogenen Hafens und der Bucht von Mérika auf der Westseite. Nach ein paar Kurven ist Páno Kámbos erreicht, bestehend aus einer Straßenkreuzung und einer Gruppe Häuser drum herum. Nach insgesamt nur 10 Minuten Fahrt geht es hinunter in den Zielort: Das abgelegene

Skála und die nördliche Landenge

• Káto Kámbos –

eine locker bebaute Bucht, mehr nicht. Direkt vom Sandstrand führt rechts eine sehr steile Zufahrt hinauf in unsere Hotelanlage. Das Pátmos Paradise besteht aus einem Haupthaus mit Pool und 45 verstreuten Bungalowzimmern im blauweiß-kubischen Kykladenstil, eingebettet in eine gepflegte Gartenanlage. Etwas hilflos kommen wir uns schon vor, als der Hotelpage einen Teil unserer Koffer über zahlreiche Treppen bis in unser Zimmer schleppt – das sind wir als Appartementindividualisten nicht gewohnt und zum Glück finde ich noch etwas Trinkgeld für den schwitzenden Angestellten in der Hosentasche. Der Raum ist sehr geschmackvoll eingerichtet: Naturbelassener Steinfußboden, ein blauweiß gefliestes Badezimmer, gemauerte Betten, Tische und Bänke. Mühlheimerin ist leicht entsetzt ob der durch das Beistellbett für Junior so beengten Verhältnisse – ist halt nur ein Hotelzimmer. Eine Reklamation würde jedoch aufgrund der mangelnden Alternativen wenig bringen, außerdem sind wir ja nur fünf Tage hier.

Bucht von Kámbos

Die Aussicht vom kleinen Balkon in die geschwungene Bucht von Kámbos ist dagegen kaum zu übertreffen: Im Vordergrund, etwas unterhalb der Hotelanlage steht eine kleine Kapelle mit weißer Kuppel, rechts davon im Hintergrund der Felsen Ágios Georgíou mit gleichnamiger Kirche darauf im glitzernden türkisblauen Meer, links die Sandbucht von Káto Kámbos.

Bucht von Kámbos

Den nächsten Tag beginnen wir mit einem reichhaltigen Frühstück fast allein auf der riesigen Hotelterrasse mit betörenden Macchiadüften und pompöser Aussicht. Wir beschließen eine Wanderung Richtung Skála, wofür ich nach dem Studium der Landkarte etwa eine Stunde Laufzeit veranschlagt habe. Bereits der Weg hinauf nach

• Páno Kámbos

Bar in Páno Kámbos

über die Asphaltstraße ist mit einem faulen nörgelnden Prinzregenten im Wagen eine wahre Quälerei. Schweißgebadet kommen wir an der schönen, steingepflasterten Platía, welche zugleich als Kirchplatz und mäßig befahrene Straßenkreuzung fungiert, an und suchen instinktiv nach Schatten und Flüssigkeit. Die Rettung naht in Form einer Bar, welche uns gleich einer Fata Morgana im gleißenden Sonnenlicht links neben den beiden traditionellen Tavernen des Ortes erscheint.

Als ich schließlich die 'Lavazza'-Reklame neben dem Eingang erblicke, ist unser Glück vollkommen. Innen ist es urgemütlich: Kamin in der Ecke, Eistheke, ein paar ausgesessene Sofas, Holzstühle und -tische und der eine stoische Ruhe ausstrahlende Wirt hinter dem Tresen. Espresso und Cappuccino sind einwandfrei – und das ist in Griechenland schon fast einen Michelinstern wert. Junior hat nach einem gepflegten Vanilleeis in der Waffel auch seinen Tiefpunkt überwunden und so machen wir uns gut gelaunt auf den nun nicht mehr ganz so anstrengenden Fußweg nach

Bar in Páno Kámbos

• Skála.

Skála

Im gemäßigten Tempo die Landstraße entlang dauert es noch knapp eine Stunde bis dorthin. Der Hafen von Pátmos ist zugleich ein Touristenzentrum mit vielen originellen Cafébars, und sehenswerten Geschäften. Insbesondere ein aus allen nähten platzender Spirituosenladen und der Devotionalienhandel hat es uns angetan. Wie gesagt: Dies ist eine offiziell zum Heiligtum erklärte Insel und so verwundert uns das kaum überschaubare Angebot an Ikonen, Kreuzen und jede Menge Kitsch nicht. Als wir so durch das Städtchen schlendern, erblicken wir eine kleine Gruppe von Leuten, ein Pope und konzentriert drein blickende Männer in zivil, welche eine großformatige Ikone, ein Heiligenbild der orthodoxen Kirche, von einem Laden zum anderen tragen. Die Zeremonie ist immer die gleiche: Ladenbesitzer kommt heraus, küsst das Bild, murmelt etwas, bekreuzigt sich und die Prozession zieht weiter. In der Vorsaison fallen solche Glaubensbekenntnisse auf offener Straße noch auf, denn die Stadt hat den leeren Stühlen vor den Bistros nach zu urteilen noch einige Kapazitäten für Touristen zu bieten.

Skála

Ein bisschen nervt die stark befahrene Hafenstraße – vor allem Motorroller machen diesen zentralen Ort unsicher. Aber hier befinden sich alle notwenigen Einrichtungen wie Auto- und Mopedverleihe, Reiseagenturen, Polizei, Touristeninfo und sogar eine Bushaltestelle. Dort erfahren wir aus dem kryptisch verschlüsselten Sommerfahrplan, dass neben Chóra auch unser Ort angefahren wird. Damit andere Reisende diese zivilisatorische Errungenschaft rechtzeitig nutzen können, habe ich hier mal die Abfahrtszeiten für den Sommer 2002 aufgelistet:

Skála – Chóra 9.30, 11.30, 13.30, 15.30, 17.30, 19.30 Uhr
Chóra – Skála 8.00, 10.00, 12.00, 13.45, 16.00, 17.45, 20.00 Uhr
Skála – Kámbos 8.15, 10.30, 16.30 Uhr
Kámbos – Skála 8.35, 11.00, 17.00 Uhr
Skála – Gríkou (über Chóra) 9.30, 13.30, 15.30, 17.30 Uhr
Gríkou – Skála (nicht über Chóra) 9.45, 13.45, 16.00, 18.00 Uhr

Aufgrund dessen ist es beinahe zwingend,

• Chóra

Innenhof mit Exonartex

anzusteuern und dort das Johanneskloster zu besichtigen. Für einen Euro entgehen wir also noch weiteren Strapazen und lassen uns in wenigen Minuten den Pilgerweg nach oben karren. Der Bus hält etwas unterhalb des Ortes, denn von hier geht es nur noch zu Fuß weiter über Treppenstufen und steingepflasterte Gassen. Nach ein paar hundert Metern erheben sich vor uns mächtige Mauern. Ende des 11. Jahrhunderts bekam der Abt Christódoulos vom byzantinischen Kaiser Aléxios Komnénos I. die Erlaubnis zum Bau dieses Klosters. Rund ein Jahrtausend war die Insel der apokalyptischen Vision des Johannes (siehe weiter unten) unbebaut geblieben. In einem Schaukasten sind die Öffnungszeiten ausgehängt: Vormittags bis 13.30 Uhr und Dienstag, Donnerstag, Sonntag Nachmittag von 16.00 bis 18.00 Uhr. Wir haben Glück, denn gleich ist es vier und werfen schon einmal einen verächtlichen Blick auf das amerikanische Pärchen in Shorts und schulterfreien Tops... schon verloren, denken wir uns. Seit dem peinlichen Eklat auf Samos sind wir stets gerüstet und befestigen schon mal die Beine per Reißverschluss an unsere Zipphosen. Fünf Minuten später öffnet sich das Tor und der Hausmeister tritt heraus: "No shorts, no tops!" wirft er beiläufig in die Runde und während wir an ihm vorbei ziehen, schauen wir noch mal bedauernd auf die armen Amis zurück: 'Seht Ihr, war doch klar!'

Innenhof mit Exonartex

Gang zu den Zellentrakten

Ein langer Gang führt bis zu einem Innenhof mit Zisterne. Hier befindet sich der Eingang zum Katholikon – so heißt die Hauptkirche des Klosters. Über den Exonarthex und Esonarthex, der äußeren bzw. inneren Vorhalle geht es vorbei an Fresken aus dem 17. bis 19. Jahrhundert hinein in das Allerheiligste. Der Hausmeister weißt noch einmal darauf hin, dass an diesem so heiligen Ort im Gegensatz zum Rest der Klosteranlage absolutes Film- und Fotografierverbot besteht und nimmt einen kräftigen Zug aus seiner Zigarette. Der Eingangsbereich ist allerdings wesentlich prachtvoller als das schlichte Innere der Kirche. Am interessantesten ist in jedem Fall die verschachtelte Architektur des Klosters. Beginnend vom 11. bis in 20. Jahrhundert hinein wurden immer wieder Bauteile hinzugefügt oder ersetzt. Das Resultat ist eine beinahe kubistisch anmutende Sammlung von Formen.

Gang zu den Zellentrakten

Auf der Terrasse des Johannes-Klosters

Im weiteren Verlauf passieren wir ein schönes Eingangsportal, bewohnte Zellentrakte der Mönche, es geht über schmale steile Treppen auf Dachterrassen hinauf, von wo man einen schönen Überblick der Gesamtanlage erhält: Zinnen, Spitzbögen und Glockentürme über einem Labyrinth von Dächern.

Es ist schon erstaunlich, dass man uns als weltliche Besucher in einem orthodoxen Kloster ohne Führung frei herumlaufen lässt, auch wenn natürlich nicht alle Bereiche für das Publikum freigegeben sind. Abgesehen von der Schatzkammer, in der Tausende von Pergamenthandschriften und gedruckten Büchern aufbewahrt sind, wird noch nicht einmal ein Eintrittsgeld für diese Attraktion erhoben.

Auf der Terrasse des Johannes-Klosters

Altstadt von Chóra

Südlich und westlich der Klostermauern schließen sich die verwinkelten Gassen der Altstadt von Chóra an, welche in manchen Teilen stark an kykladische Baustile und Grundrisse erinnert: Kaum eine Straße trifft im rechten Winkel auf die andere. Teilweise nur über Treppenstufen lässt sich der Weg fortsetzen, so dass dort nicht einmal die sonst allgegenwärtigen Motorroller als Verkehrsmittel taugen – welch ein Segen!. Sämtliche Häuserwände sind schneeweiß getüncht, selbst der Zement zwischen dem Natursteinpflaster. Auffällig ist hier das Fehlen jeglicher touristischer Begleiterscheinungen wie Andenkenläden, Cafés und Tavernen. Lediglich auf der sogenannten Souvenirgasse zwischen Bushaltestelle und Kloster sowie der Platía Agías Levías östlich davon gibt es einen Ansatz von Infrastruktur. Die Lokale an diesem Platz sind ein beliebter Treffpunkt der griechischen Schickeria, die hier fernab vom üblichen Massentourismus mancher Ägäisinseln lieber unter sich bleibt.

Altstadt von Chóra

Den Bus hinunter nach Skála erreichen wir noch rechtzeitig, aber von dort gibt es für den Rest des Tages keine Verbindung mehr Richtung Kámbos. Wir lassen uns daher in einem der Fischtavernen am Hafen nieder und fahren anschließend mit einem der 10 Inseltaxis, deren Fahrer sich meist laut gestikulierend am zentralen Standort am Hafen versammeln, ins Hotel. Dass für die sechs Kilometer Fahrt lediglich 4 Euro verlangt werden, überrascht uns doch angenehm.

Selbst auf einer winzigen Insel wie dieser sind manche abgelegenen Gegenden nur mit einem fahrbaren Untersatz zu erreichen, will man nicht unverhältnismäßig lange Fußmärsche in Kauf nehmen. Fahrräder kommen aufgrund der Steigungen und Motorräder wegen des Kindes und meiner fehlenden Fahrpraxis nicht in Betracht. Also bleibt uns am nächsten Tag nur der Gang zur Autovermietung. Im selben Büro sitzt auch unser Reiseleiter, den wir bislang nur einmal kurz am Hafen gesehen haben und welcher immer noch keine Anstalten gemacht hat, die noch fehlenden Fährtickets nach Kos zu besorgen. Nachdem wir dem unschuldig drein blickenden jungen Herrn von Attika den Ernst der Lage verdeutlicht haben ('Abreise in drei Tagen!'), wenden wir uns angenehmeren Projekten zu: Überaus entgegenkommend reagiert der Mitarbeiter von Astoria Travel auf unseren Wunsch nach einem 24-Stundenvertrag. Wir können den Wagen, einen nagelneuen Toyota Yaris mit Klimaanlage und Vollkasko sofort mitnehmen – 30 Euro bar auf die Hand, im Gegenzug die Autoschlüssel und das ganze ohne irgendeine Unterschrift. Den Rückgabezeitpunkt bestimmen wir selbst: Morgen um 18.00 Uhr ist genehm – das sind volle 30 Stunden, ein Euro pro Stunde ist kein schlechter Preis.

Das erste Ziel ist die

• Panagía Geranoú,

eine kleine abgelegene Kapelle auf einer Landzunge im Nordosten. Die mit diesem Mietwagen für gut einen Tag wiedererlangte totale Entscheidungsfreiheit verführt natürlich zu Fahrten ins Blaue, denn außer einem schönen Aussichtspunkt ist an diesem Ort keine nennenswerte Sehenswürdigkeit zu finden. An diesem Morgen erfüllt sich wieder einmal die alte Weisheit 'Der Weg ist das Ziel', denn die Tour über die Schlaglochpiste, vorbei an Ziegenweiden, durch Viehgatter, die von Hand zu öffnen und auch wieder zu verschließen sind, ist doch mindestens genauso unterhaltsam, wie der herrliche Ausblick auf den Süden von Pátmos mit dem markanten Johanneskloster als höchste Erhebung. Irgendein Spaßvogel hat im Angesicht dieser grandiosen Kulisse ein altes metallenes Bettgestell auf ein Betonfundament vor die verschlossene Kapelle gestellt. Darüber hinaus ist die Halbinsel mit bunter Macchia überwuchert, welche vor dem Hintergrund der nahen Inseln Arkí, Lípsi und Maráthi ein kontrastreiches Bild ergibt.

Panagía Geranoú
Blick von der Panagía Geranoú
Blick von der Panagía Geranoú
Panagía Geranoú

Natürlich plagt uns schon bald wieder der Appetit und laut Dumont finden sich die nächstgelegenen Tavernen in

• Lámbi.

Am Strand von Lámbi

Etwa drei Kilometer nördlich von unserem Hotel beginnt bereits die Nordküste von Pátmos – eine Strecke die man natürlich prinzipiell auch zu Fuß zurücklegen könnte, aber aufgrund einschlägiger Erfahrungen benutzen wir vorsichtshalber das neu erworbene Auto. Lámbi ist bekannt für seinen bunten Kiesstrand – an Baden ist jedoch aufgrund der starken Brandung weniger zu denken. Abgesehen davon liegt man nicht sonderlich bequem auf Steinen. Die urgemütliche Taverne 'Dolphin of Lámbi Beach' liegt nicht nur direkt am Strand, sondern hat einen Großteil ihres Sitzmobiliars direkt darauf gestellt. Geschützt durch ein Bambusdach sitzen wir auf klassischen blauen Holzstühlen und genießen einen einzigartigen Blick über die leeren Tische direkt vor der Kulisse der Brandung.

Der Weg zu diesem abgelegenen Lokal hat sich gelohnt: Die Bauernküche ist hervorragend, der bestellte Saganaki wird direkt am Tisch mit Ouzo flambiert – schmeckt aber trotzdem köstlich. Den frischen Fisch suche ich mir in der Küche persönlich aus einem reichhaltigen Angebot heraus und dazu gibt es handgeschnittene, in Olivenöl frittierte Weltklasse-Pommes.

Am Strand von Lámbi

• Akropolis

Bereits am nächsten Tag geraten wir ins Grübeln, welche sinnlosen Aktionen man denn noch mit einem Leihwagen auf Pátmos anstellen könnte. Auf der Landkarte ist die antike Akropolis verzeichnet – eine hochinteressante Perspektive, die exakte Lage westlich von Skála auf dem Hügel Kastélli lässt sich aber nur erahnen. Wir versuchen, den oberen Ortsrand über ein Gewirr von engen Gassen zu erreichen und bleiben schließlich an einem plötzlichen Engpass unmittelbar vor einem Stufenansatz stecken. Nur mit Mühe, Not und Millimeterarbeit gelingt die Wende. Auf der Straße zurück gibt es nicht eine einzige Abstellmöglichkeit. Erst der öffentliche Parkplatz am Hafen bietet Raum für unser Gefährt, so dass wir den gesamten Weg nochmals zu Fuß hinauf keuchen.

Felder am Kastélli-Hügel

Endlich am Ortsrand angelangt führt ein zum Teil sehr steiniger und dorniger Feldweg vorbei an weidenden Maultieren und Haferfeldern in Richtung Westen. Die Mittagssonne brennt unerbittlich. Eine von Bäumen eingewachsene idyllische Kapelle bietet unterwegs den einzigen Schatten. Ich frage zwei entgegenkommende Urlauber, wie weit es denn noch sei. 'Zwanzig Minuten' entgegnen mir im forschen Vorbeimarsch die Hardcorewanderer und ich erahne dunkel, was uns wohl erwartet. Hier lassen wir den Kinderbuggy auf jeden Fall stehen, denn danach wird der Pfad immer steiler und holpriger und endet schließlich inmitten von aufgelassenen Feldterrassen im Nichts.

Felder am Kastélli-Hügel

Auf dem Kastélli-Hügel (im Hintergrund Ikaría)

Auf dem Kastélli-Hügel (im Hintergrund Ikaría)

Mauerreste der Akropolis

Mühlheimerin und Prinzregent werden langsam ungehalten und verweigern die Gefolgschaft, dabei sind wir doch so nah vor dem Ziel. Ich klettere einige Meter durch stachlige Macchia empor und erkenne schließlich monumentale Quader steil über mir am Abhang. 'Ich schau mir mal schnell die Mauern an... ein paar Bilder machen...' werfe ich Frau und Kind schnell noch einen letzten Abschiedsgruß zu und beginne den Aufstieg ins Ungewisse. Es ist halsbrecherisch, ich kralle mich an scharfkantigen Felsen fest und das Geröll gibt unter meinen Füßen nach. Die schwere Tasche mit der Foto-/Videoausrüstung schlackert haltlos an meiner Seite und überall lauert lüsternes Dornengestrüpp auf unversehrte Menschenhaut. Endlich stehe ich auf einer Terrasse vor den monumentalen fugenlosen Mauerresten der antiken Befestigungsanlage. Leider ist in keinem Reiseführer etwas näheres dazu erwähnt, doch der Ausblick über die Bucht von Skála auf der Ostseite und die offene Ägäis im Westen kann nur als majestätisch umschrieben werden.

Mauerreste der Akropolis

Auf dem Rückweg bekomme ich dann die Quittung für so viel Leichtsinn: Nicht etwa Knochenbrüche oder Hautabschürfungen, sondern ein schwerer Heuschnupfenanfall sind die Folge des Spazierganges durch blühende Wiesen und Felder. Mit tränenden Augen, laufender Nase und infernalischen Niesanfällen flüchte ich in ein Café und bin erst eineinhalb Stunden später wieder in der Lage, über ein neues Ziel nachzudenken. Nur wenige hundert Meter Luftlinie von meinem Zufluchtsort entfernt liegt in Form der authentischen historischen Stätte der Johannes-Offenbarung der Grund für die enorme religiöse Bedeutung der Insel:

• Moní tis Apokálipsis

Kloster Moní tis Apokálipsis

Vor über 1900 Jahren wurde hier in einer Grotte dem heiligen Johannes das letzte Buch des Neuen Testaments verkündet. Es enthält in groben Worten gesagt eine Warnung an die christlichen Gemeinden in Kleinasien, gefolgt von einem in allen schaurigen Details beschriebenen Weltuntergangsszenario. Die orthodoxe Kirche setzt bis heute diesen Johannes mit dem Jünger Christi gleich, obwohl er nachweislich am Ende des 1. Jahrhunderts als von Kaiser Domitian Verbannter auf der Insel lebte und daher nach wissenschaftlicher Betrachtung Jesus kaum gekannt haben dürfte.

Kloster Moní tis Apokálipsis

Das Kloster der Apokalypse erreichen wir etwa auf halbem Wege der Straße, welche hinauf nach Chóra führt. Es liegt inmitten einer schattigen Gartenanlage auf einigen rundgeschliffenen Felsen und besticht wie schon zuvor seine große Mutteranlage in Chóra durch die verschachtelte Bauweise. Doch wir haben Pech: Es ist Samstag und daher Nachmittags leider geschlossen, denn die Öffnungszeiten sind die gleichen wie beim Johanneskloster (siehe oben).

Zum Abschluss unserer Tour fahren wir noch ein paar Kilometer in den Süden über die mit nur 300 Metern schmalste Landenge von Stavrós. Insgeheim hege ich die Hoffnung, den Abend am schönsten Strand von Pátmos – Psilí Ámmos – ausklingen zu lassen. Aber dieses Vorhaben scheitert jäh am Ende der asphaltierten Straße kurz hinter der Bucht: Nur zu Fuß oder per Geländemaschine geht es hier weiter. Wir begnügen uns mit einem Strand in der durch die Insel Tragoníssi weitgehend abgeschirmten Bucht von Gríkou.

Nachdem am darauffolgenden letzten Tag nichts vom hochmotivierten Attika-Reiseleiter zu hören ist, beschließen wir, in jedem Fall irgendwie rechtzeitig am Hafen zu stehen – auch ohne Fahrkarten. Erst am Morgen des Abreisetages erspäht uns der Hoteldirektor persönlich beim Frühstück und überreicht die Bootstickets, welche wohl in der vergangenen Nacht kommentarlos abgegeben wurden.

• Allgemeines zu Pátmos

Eine Woche Aufenthalt sind auf diesem winzigen Eiland völlig ausreichend, um alle Sehenswürdigkeiten und Winkel zu erkunden. Ein Mietwagen ist nicht unbedingt erforderlich, denn die maximale Entfernung zum jeweils nächsten Ort beträgt ca. 7 Kilometer und Linienbusse verbinden die wenigen bedeutenden Dörfer (Skála, Chóra, Gríkou und Kámbos) miteinander. Für Bade- oder Landausflüge empfehlen sich ein Motorrad oder die preisgünstigen Taxis. Wer gut zu Fuß ist, wird die meisten Strände auch so erreichen können.

Für diejenigen, die sich trotzdem ein Auto leihen, so wie wir, sei folgendes angemerkt: Es gibt auf der ganzen Insel keine Ampeln und nur zwei Tankstellen (beide in Skála), der Preis für Normalbenzin lag im Mai 2002 bei 0,82 Euro.

Bemerkenswert war für uns der überaus freundliche Empfang in den meisten Cafés, Bars und Tavernen: Spätestens nach dem zweiten Besuch gab es schon kleine Gefälligkeiten wie Äpfel mit Zimt oder Eis für den Prinzregenten, Joghurt für die Frau Mama und Ouzo für den Herrn Papa.

Dies ist der zweite von drei Berichten über meine Reise zu den ostägäischen Inseln. Der erste Teil, 'Heras Heiligtum', beschreibt eine 9-tägige Tour durch die einsamen Gebirgsdörfer, antiken Ausgrabungen und zauberhaften Naturlandschaften von Samos. Der dritte Beitrag, 'Das Sanatorium des Hippokrates', handelt von Kos, Insel der Sandstrände und Heimat des Asklipions.

Der Reisepreis von 4500 € ist natürlich sehr hoch, beinhaltet aber die Gesamtkosten für zwei Erwachsene und ein Kleinkind. Darin enthalten sind Flüge von Frankfurt nach Sámos und zurück von Kos nach Frankfurt, alle Schiffs-, Bus- und Taxitransfers, 19 Tage Mietwagen einschließlich Benzin, 18 Tage Aufenthalt in Appartements mit jeweils zwei Schlafzimmern, 5 Tage im gehobenen Mittelklassehotel, alles gebucht über den Spezialveranstalter Attika sowie sämtliche Kosten für Verpflegung und Trinkgelder.