Im Herzen Etruriens

Zur Vervollständigung meiner Reiseeindrücke aus dem Süden Umbriens lest Ihr heute einen Bericht über die Ausflüge, die ich in die Städte und Ortschaften im Norden des Latium, der zentralen Region Italiens, unternommen habe. Bisher erschienen sind die Beiträge über Umbrien („Die Kornkammer Roms“) und die Stadt Orvieto („Wunder aus Tuffstein“).

· Anfahrt und Unterkunft

Eine Reise wie im Folgenden beschriebenen ist aufgrund der teilweise langen Wege zu den Privathäusern und abgelegenen Ausflugszielen nur mit entsprechender Mobilität am Urlaubsort zu bewerkstelligen. Auch wenn die Entfernung für An- und Abreise manchen abschrecken wird: Die ideale Voraussetzung ist das eigene Auto, denn Leihwagen sind in Italien teuer und organisierte Ausflüge unflexibel und nervtötend. Vom Flugzeug würde ich abraten (wäre über Rom natürlich machbar) – allenfalls das mitgebrachte Fahrrad wäre noch eine Alternative. Von Frankfurt am Main bis in die kleine Ortschaft Castiglione in Teverina am Nordrand des Latium sind es gut 1200 Kilometer, welche wir in zwei bequemen Tagesetappen mit Übernachtung in dem kleinen Städtchen Ala in der Nähe des Gardasees zurücklegen. Wir haben über den Vermittler Interhome, mit dem wir bereits 1999 gute Erfahrungen im nördlichen Teil Umbriens gemacht hatten, für zwei Wochen ein freistehendes restauriertes Bauernhaus in klassischer Bruchsteinbauweise mit Terrakottaboden in einem kleinen Seitental gemietet: Drei Schlafzimmer, zwei Bäder, eine separate Toilette, eine Küche mit Spülmaschine und Gas-/Elektroherd (Waschmaschine für den Notfall in einem Verschlag am Haus) und die Außenterrasse mit Wiese bieten für vier Erwachsene und drei Kinder sehr großzügigen Raum für Erholung und Entfaltung. Hinzu kommen der große Speiseraum mit rustikaler Möblierung und ein Wohnzimmer mit Bibliothek und teilweise antiken Möbeln für lauschige Abende vor dem Kamin. Bis nach Orvieto sind es von dort lediglich 16 Kilometer – eine der schönsten Städte Mittelitaliens liegt somit vor der Haustür und wir werden in den nächsten zwei Wochen reichlich Gebrauch von diesem verlockenden Angebot machen. Diese Erlebnisse sind jedoch das Thema des o.g. separaten Berichts. Beginnen möchte ich unsere Tour in

· Castiglione in Teverina,

dem nächstgelegenen Städtchen am Ende einer Hügelkuppe. Nachdem uns die Damen mit der unmissverständlichen Anweisung „...und nehmt die Kinder gleich mit!“ zum Einkaufen geschickt haben, berichte ich hiermit von einem Herrenausflug. Für uns Selbstversorger bietet Castiglione vorzügliche Einkaufsmöglichkeiten: Es gibt eine leicht schäbige, aber authentische Cafébar (großen Bogen um die Toilette - Seuchengefahr!) vor einem hübschen Brunnen, zwei Alimentari (Lebensmittelgeschäfte) und am zentralen Marktplatz den Wein- und Delikatessenladen. Hier sind gelegentlich auch Verkaufsstände für frischen Fisch und lebendes Geflügel, das in für italienische Verhältnisse überraschend großen Kartons angeboten wird, anzutreffen. Von den Balustraden am Rand des an den meisten Tagen als Parkfläche genutzten Platzes hat man einen schönen Blick ins Tibertal.

Auf der Hauptstraße finden wir den ausgezeichneten Käsehändler mit überwiegend regionalen Pecorinoköstlichkeiten zu wirklich zivilen Preisen (um die 2000 LIT pro 100g), den uns Signora Tani, unsere Vermieterin, wahrscheinlich nicht ganz uneigennützig empfohlen hatte. Wir entscheiden uns für eine allgemeine Betrachtungsweise unserer Einkaufstour und erkundigen uns bei der Käsefrau nach dem bedeutendsten Winzer im Ort. Die nicht ganz eindeutige Wegbeschreibung erfordert von uns einiges an Orientierungsgabe. Schließlich erreichen wir das Weingut Trappolini über eine extrem steil abfallende Straße am Fuße der Ortschaft: Nur mit äußerster Kraft können wir die Kleinen samt Kinderwagen vor ihrem ersten Downhill-Erlebnis bewahren. Mario Trappolini hat soeben an diesem leicht verregneten Vormittag seinen Traktoranhänger mit frisch geernteten Trauben im Hof eingeparkt, als wir ihm unser Anliegen einer spontanen Weinprobe unterbreiten. In Italien sind Weingüter nicht unbedingt auf diese Form der Direktvermarktung per Verkostung vor Ort eingestellt, wie wir sie aus dem Rheingau, der Pfalz oder anderen deutschen Regionen kennen. Aber unser Wunsch ist überhaupt kein Thema, denn man hat Verständnis für unsere Notsituation (morgens bei Regen, völlig erschöpft, allein mit drei Kindern, ohne Frauen...) und wir landen in einem kleinen Büro mit Ausschankutensilien bei der netten Tochter des Hauses.

Paterno

Während der alte Trappolini im Hof Walnüsse für unsere Kinder schält, erklärt uns die junge Dame in fabelhaftem Englisch (welch ein Segen) die Vorzüge ihrer Produktpalette. Wir entscheiden uns nach dem ersten Probieren spontan für den Breccetto, einem ausschließlich von Grechetto-Beeren gewonnenen Weißen: Sehr blumig, stark aromatisch und grundehrlich.

Zielstrebig tasten wir uns zu den Kostbarkeiten vor und fordern entschlossen die Herausgabe der Flasche mit dem dunkelblauen mystischen Etikett: Nach einigem Zögern holt Signorina Trappolini wie selbstverständlich zwei große Rotweingläser hervor und schenkt uns den granatroten Paterno ein – nachdem wir in den meisten Kooperativen bislang hochwertige Weine aus scheußlichen Plastikbechern nippen mussten, dass uns das Herz blutete, sind wir doch einigermaßen angenehm überrascht. Und dann ... wie ein Dampfhammer trifft uns die wuchtige Fülle dieses 100%igen Sangiovese von 1998, ausgebaut im edlen Barriquefass. Wir sind voller überschwänglicher Lobpreisungen, müssen jedoch erschaudern, als die aparte Winzertochter zunächst entschlossen von einem Geschäft mit uns nichts wissen will, weil angeblich alles für den Export, natürlich Germania, vorbestellt sei. Och... Dabei war er lange genug geöffnet, ordentlich temperiert und dann dieser Eichengeschmack, die vielfältige Würze – überwältigend! Der Nachgeschmack: Ein Hauch von Salz – sensationell! Erst nach intensivem Feilschen und diverser Suiziddrohungen bekommen wir zusammen eine Kiste zugeteilt. Ich glaube, wir bezahlen 15.000 oder 16.000 LIT pro Flasche, aber der Tropfen ist gut und gerne das Doppelte wert. Für den Breccetto sind es unter 10.000 LIT und voller Stolz auf unsere Hartnäckigkeit, glücklich und geistig gestärkt treten wir den steilen Heimweg an.

Der nächste kulturelle Höhepunkt in der Nähe ist, sieht man mal vom alles überragenden Orvieto ab, der Ort

· Bagnorégio

Eigentlich dreht es sich nur um das winzige auf einem Tuffsteinfelsen gelegene, fast verlassene Dorf mit dem Zusatz „Cività“. Das neue Bagnorégio ist um ein Vielfaches größer und gruppiert sich um eine langgezogene Hauptstraße, welche irgendwann an einem staubigen Abhang endet. Hier befindet sich, über eine supersteile halsbrecherische Abfahrt erreichbar, ein kostenpflichtiger Parkplatz. Zumindest denken wir das eine Zeit lang, bis wir irgendwann merken, dass alle italienischen Besucher den Parkscheinautomaten vorsätzlich ignorieren, weil er trotz Einwurf der kostbaren Lire nichts ausspuckt. Aber der gute Wille zählt... Schon beim Anblick der auf Stelzen ruhenden, zum Felsen hin ansteigenden Fußgängerbrücke verschlägt es uns den Atem. Nirgendwo ist eine Straße zu sehen, seit alters her wurden sämtliche Güter des täglichen Bedarfs zu Fuß über einen schmalen Grat hinauf geschafft. Irgendwann fiel dieser Weg der alles vernichtenden Erosion zum Opfer, so dass man eine Brücke konstruierte. Diese wurde im letzten Krieg von der deutschen Wehrmacht demoliert und in moderner Form wieder aufgebaut. Wie eine Trutzburg drängt sich die alte Cività auf dem engen Felsplateau – drum herum nur tief zerklüftete erodierte Vulkanlandschaft.

Wir passieren das mittelalterliche Stadttor und stehen dann auf einem kleinen Platz mit einer Bar und Pizzeria al Taglio. Die köstlichen Häppchen werden direkt „vom Blech“ verkauft, daher der Name, und sind nicht gerade preisgünstig. Aber es muss ja alles zu Fuß hier hoch... Von dieser Piazza aus führt eine einzige nennenswerte Gasse durch die Ansammlung von Häusern bis zum anderen Ende des Plateaus. Ein paar bestenfalls mit Motorrollern befahrbare Fußwege führen um einige Häuser herum an den Rand des Felsens. Hier sehen wir zum ersten Mal baufällige Gebäude, die zum Verkauf stehen. Die Cività ist eine sterbende Stadt und niemand mehr möchte hier am gefährlichen Abhang wohnen. Vielleicht hat sich der Ort deswegen seine Unschuld bewahrt: Nichts stört die perfekte Harmonie der mittelalterlichen Tuffsteinfassaden, Rundbögen, Terrakottatöpfe und hölzernen Fensterläden. Ein klassisches Fotomotiv jagt das andere und wir kommen ob der Blütenpracht an den behutsam restaurierten Treppenaufgängen aus dem Staunen nicht heraus.

Civita di Bagnorégio

An diesem Tag findet hier ein regionales Patronatsfest statt. Einige Musiker in uralten Festanzügen von der anderen Seite der Schlucht haben schwitzend den Weg auf den Felsen gefunden, alle wichtigen Gebäude sind mit kunstvollen Fahnen und Wappen geschmückt, wie man sie sonst nur bei einem Palio im Zentrum einer mittelitalienischen Stadt zu sehen bekommt. Auf dem unbefestigten Platz vor der Kirche werden Absperrgitter von einem ehrenamtlichen Helfer mit bedeutsamer Miene in den Boden eingelassen. Anschließend wässert er gewissenhaft den staubigen Boden. Keine Ahnung, was hier passiert, womöglich irgendetwas mit Pferden... Eine halbe Stunde später ist die Erde wieder trocken und einige Gitter werden entfernt – bei unseren südlichen Nachbarn, so haben wir mittlerweile gelernt, gibt es nicht immer für alles eine unmittelbare Erklärung und so würdigen wir statt eines rasanten Pferderennens eben die mit Blumenteppichen ausgelegte kleine Pfarrkirche.

Civita di Bagnorégio

Civita di Bagnorégio

Das einzige Ristorante auf dem Felsen ist hoffnungslos überfüllt und so bleibt uns eine der beiden Osterien, in denen neben regionalen Weinen erstklassige Bruschetti zubereitet werden. Im Gegensatz zu den optisch sehr ähnlichen Crostini wird das Bauernbrot dabei in Scheiben zunächst über offenem Feuer geröstet und dann mit den unterschiedlichsten Mischungen bestrichen: Kaltgepresstes Olivenöl aus eigener Produktion mit sonnenreifen Tomaten, Basilikum und Knoblauch, Tartufata (Trüffelpaste), Auberginenpaste und Pecorino. Natürlich hat auch diese Delikatesse ihren Preis (ca. 4.000 LIT pro Scheibe), was aufgrund der exquisiten Zutaten jedoch in Ordnung geht.

Auf dem Rückweg werfe ich noch einen Blick in das inzwischen geöffnete Museum am Eingang: Ein Modell des Felsens, mit Liebe zum Detail modelliert und ein Streifzug durch die geologische Entstehung der Landschaft, leider nur in italienischer Sprache. Dabei spielt die Vorgeschichte des Lago di Bolsena eine entscheidende Rolle, wie wir auf unserem folgenden Ausflug erfahren werden.


Civita di Bagnorégio

· Bolsena

Altstadt von Bolsena

ist das Städtchen, welches dem benachbarten See den Namen gegeben hat. Nichts anderes als eine fast kreisrunde Caldera sehen wir vor uns, als wir den mittelalterlichen Teil auf der strategisch bedeutsamen Felsanhöhe über dem Lago erreichen. Vor rund 400.000 Jahren stürzte der Untergrund des Vulkangebiets nach fast 500.000 Jahre andauernden Eruptionen in sich zusammen und füllte sich allmählich mit Wasser – der See misst 114 qkm und ist somit der größte dieser Art in Europa. Als Überrest der gewaltigen Auswurfmassen sind infolge der Erosion Tuffsteinfelsen in der näheren Umgebung mit ihren Jahrtausende alten Siedlungen, allen voran das berühmte Orvieto, stehen geblieben. Der mittelalterliche Teil Bolsenas gründet sich auf den Mauern des antiken Volsinii, welches wiederum auf das etruskische Velzna zurückgeht. Oberhalb der Stadt an der Straße nach Orvieto liegt das Ausgrabungsgelände mit den etruskisch-römischen Resten des Mauerrings, des Amphitheaters, der Thermen und frühchristlicher Basiliken. Der neuere Teil der Stadt zieht sich heute bis an die Ufer des Sees – die Hauptursache für Bolsenas touristischen Erfolg. Immer wieder werden von Naturschützern Badeverbote gefordert, da man aufgrund des geringen Wasseraustauschs ein Umkippen befürchtet.


Altstadt von Bolsena

Neustadt von Bolsena

Berühmt geworden ist der Ort allerdings durch das Eucharistiewunder, welches die Einführung des Fronleichnamsfeiertags nach sich zog. 1264 soll einem böhmischen Priester während der Abhaltung der Messe in der Grotte von Santa Christina Blut aus der Hostie getropft sein. Das Messtuch mit den angeblichen Blutflecken wird heute im aus diesem Anlass errichteten Duomo Santa Maria von Orvieto in der Cappella del Corporale in einem kostbaren Reliquiar aus Gold, Silber und Email aufbewahrt.


Neustadt von Bolsena

Aufgang zum Schloss Monaldeschi in Bolsena

Nach einem kurzen Abstecher in den mittelalterlichen Kern mit seinem kopfsteingepflasterten Gassen entschließen wir uns, die Wagen in der Neustadt abzustellen und das Gewirr aus Treppenstufen von unten zu erkunden. Der steile Aufgang zur Burg bewahrt uns vor motorisierten Störungen aller Art und es eröffnen sich immer prächtigere Ausblicke über die Dächer der Bruchsteinhäuser auf den spiegelglatten Lago. Die Burgmauern durchqueren wir über ein langgestrecktes finsteres Tonnengewölbe. Oben angekommen stehen wir vor den Gemäuern des Castello Monaldeschi aus dem 15. Jahrhundert, worin heute das sehenswerte Museo Territoriale mit etruskischen Funden aus der Region, der Dokumentation über das antike Volsinii und einem Exkurs durch die vulkanische Entstehungsgeschichte untergebracht ist. Von den Zinnen der Festung offenbart sich uns eine phantastische Aussicht auf den See und seine piniengesäumten Ufer, ein Meer von ziegelroten Dächern der Altstadt und einen Wald von dunklen Zypressen.

Aufgang zum Schloss Monaldeschi in Bolsena

Dächer der Altstadt von Bolsena vor dem Lago
Dächer der Altstadt von Bolsena vor dem Lago

· Montefiascone

Kuppel des Duomo Santa Margareta (Montefiascone)

Am südöstlichen Ende des Lago di Bolsena auf einer Felskuppe liegt diese Stadt, die ihre Jahrhunderte lange Bedeutung der Existenz des Papstpalastes (Rocca dei Papi) verdankt. Eine weitere Berühmtheit erlangte der Ort durch seinen Weinbau. Eine alte Geschichte, die zum skurrilen Namen des bekanntesten Weißweins von Montefiascone führte, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Im 12. Jahrhundert schickte angeblich Fürst Johannes Fugger (ja, der Augsburger!) seinen Diener in die Umgebung, um die Weine in den einzelnen Wirtshäusern zu verköstigen. Hatte er einen lohnenswerten Tropfen gefunden, so kennzeichnete er mit Kreide die Tür des jeweiligen Wirtes mit dem lateinischen Wort „Est!“, zu deutsch „Ist!“ oder sinngemäß „Er ist gut!“. Der Wein aus Montefiascone muss ihn so umgehauen haben, dass er sich hinreißen ließ zu einem dreifachen „Est!“, was soviel wie „Jaaaa, der ist es, die ultimative Dröhnung!“ bedeutet. Laut seiner Grabinschrift in der Chiesa San Flaviano muss ihm sein Gebieter Fugger jedenfalls geglaubt und soviel von dem Tropfen konsumiert haben, dass man ihn gleich hier behielt. Der heutige „Est! Est!! Est!!!“ wird aus den Rebsorten Malvasia und Trebbiano und in den Variationen trocken und halbtrocken als Dessert gekeltert.


Kuppel des Duomo Santa Margareta (Montefiascone)

Lago di Bolsena bei Montefiascone

Aber das nur nebenbei, denn natürlich sind wir wie immer nur wegen der kulturellen Höhepunkte und der schönen Landschaft nach Montefiascone gekommen. Das Städtchen wird von der riesigen, weithin sichtbaren Kuppel des Duomo Santa Margareta dominiert. Vom Belvedere haben wir die bislang schönste Aussicht auf den See mit seinen zwei kleinen Inseln Martana und Bisentina: Der Himmel ist bewölkt, durch die Lücken fallen Sonnenspots auf die weite Ebene bis zu den Ufern unterhalb der Stadt und zaubern phantastische grüne und gelbe Farbeffekte in die malerische Landschaft aus Feldern, Zypressenalleen, Oliven- und Pinienhainen. Der See lädt zu einer Erfrischung ein, so dass wir auch im Interesse des Nachwuchses die etwa fünf Kilometer bis hinunter fahren. Im Anschluss an die bis fast ans Ufer reichenden Olivenhaine erstreckt sich die nur durch eine schmale Straße getrennte sehr gepflegte Liegewiese hinter dem mehrfach unterbrochenen Schilfgürtel des Sees. Die Straße endet im Staub hinter einem Sandstrand, der bei näherer Betrachtung mit unzähligen Glasscherben und Zigarettenkippen durchsetzt ist. Wir bevorzugen den Platz unter angenehm schattigen Bäumen der Grünanlage, zumal dort Spielgeräte stehen und regelmäßig Stege ins Wasser führen. Doch irgendetwas fehlt zu unserem vollkommenen Glück... Nach einiger Zeit erkennen wir den Grund für das vakuumähnliche Gefühl im Magen und machen uns auf den Weg zurück nach Montefiascone.

Lago di Bolsena bei Montefiascone

Wir wählen die Trattoria an der aus Orvieto kommenden Straße unmittelbar vor der Kreuzung Richtung Centro und Viterbo auf der rechten Seite – der Name ist mir leider entfallen. Aber eine wirklich empfehlenswerte Entscheidung, wie sich nun herausstellen wird. In der Gaststube stehen einfache helle Holztische und -stühle, im zweiten Raum lodert ein offenes Holzfeuer – ein gutes Zeichen für schmackhafte Bruschetti und Grillgerichte. Ebenfalls vielversprechend die Tatsache, dass sich das Lokal pünktlich um die Mittagszeit mit Einheimischen füllt. Wie es sich gehört, wird der Pizzaholzofen nur in den Abendstunden angeheizt, so dass wir uns tagsüber mit köstlichen hausgemachten Pasta zu fairen Preisen begnügen müssen.

· Viterbo

Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz war im 13. Jahrhundert Papstsitz und hat heute ein nahezu vollständig erhaltenes mit einer mächtigen Stadtmauer umgebenes mittelalterliches Zentrum vorzuweisen. Von Orvieto über Montefiascone und die antike Via Cassia fahren wir etwa eine Stunde in Richtung Süden. Schon an der Peripherie des 60.000 Einwohner zählenden Verwaltungs- und Geschäftszentrums stecken wir im Stau und nähern uns nur im Schritttempo dem Ziel. Spätestens an der Stadtmauer ist die Fahrt für Ortsunkundige wie uns zu Ende: Die Verkehrsschilder weisen auf einen natürlich vollständig belegten öffentlichen Parkplatz und mit viel Glück finden wir eine kaum fassbare kostenlose Parknische an einem der Stadttore.


Glockenturm an der Piazza del Plebiscito (Viterbo)

Als Ausgangspunkt für unseren Rundgang durch das Quartiere San Pellegrino, der wohl am perfektesten erhaltenen mittelalterlichen Contrada Italiens, wählen wir die Piazza del Plebiscito mit dem Palazzo dei Priori. Der Rathausbau ist auch unter der Bezeichnung Palazzo Comunale bekannt und beherbergt neben dem schönen Säulengang zum Platz hin einen Innenhof mit Garten und einem barocken Brunnen (schöne weitläufige Aussicht auf tiefer liegende Stadtteile). Auf der linken Seite des Platzes erhebt sich ein markanter schlanker Glockenturm mit farbigem Zifferblatt in den Himmel.


Glockenturm an der Piazza del Plebiscito (Viterbo)

Piazza del Gesú (Viterbo)

Wir nehmen die Via di San Lorenzo, welche rechts von der Piazza wegführt und gehen bis zur Piazza del Gesú, in deren Mitte ein in jüngerer Zeit aus alten Fragmenten zusammengesetzter Brunnen steht. Es geht weiter über die Via Fattunghieri gegenüber bis zur Piazza Santa Maria Nuova. Links steht die gleichnamige Kirche aus dem 11. Jahrhundert, deren prägnantes Merkmal die an der äußeren Ecke der verwitterten Tuffsteinfassade angebrachte Kanzel darstellt: Hier soll der heilige Thomas von Aquin gepredigt haben.


Piazza del Gesú (Viterbo)

Chiesa Santa Maria Nuova (Viterbo)

Die Via Cardinal rechts am anderen Ende der Piazza führt uns zurück auf die Via di San Lorenzo, der wir nun über ein Brückchen bis zum sakraken Höhepunkt Viterbos folgen: Die Cattedrale di San Lorenzo und der Palazzo Papale. Noch einmal um die Ecke, dann sind wir auf der Piazza... und stehen vor einer Baustelle – wie sollte es auch anders sein. Wenigstens die überdimensionale Freitreppe hoch zur berühmten Loggia mit ihrem gotischen Rippengeflecht ist begehbar und als ich einen günstigen Winkel finde, ist von den Gerüsten, welche sonst den Blick durch dieses Schaufenster auf die dahinter liegende Landschaft und Stadtsilhouette auf meinem Photo verschandeln, nichts mehr zu sehen. Ab 1257 wurde der ursprüngliche Bischofssitz zu einer ständigen päpstlichen Residenz, wo bis 1281 fünf Konklaven abgehalten wurden, ausgebaut.

Chiesa Santa Maria Nuova (Viterbo)

Auf dem selben Weg wie wir gekommen sind erreichen wir die Piazza und Fontana della Morte mit ihren vier wasserspeienden Löwenköpfen. Über die Vie Pietra del Pesce, Macel Maggiore und die Piazza San Carluccio geht es zur Via di San Pellegrino durch das Zentrum dieses Stadtteils. Selbst diese eigentliche Hauptstraße hat für unser Verständnis eher die Breite einer Gasse. Wir laufen unter unzähligen Rundbögen hindurch, vorbei an Außentreppen, Balkonen und kleinen Plätzen und bestaunen die Türme um uns herum. Seit dem 13. Jahrhundert hat sich hier so gut wie nichts verändert. Stellvertretend für die Authentizität dieses Viertels sei hier der Palazzo degli Alessandri an der Piazza San Pellegrino genannt. Der Verlauf der uralten Straßen ist für uns verwirrend: Unzählige Knicke, die den Durchblick verhindern und überraschende Sackgassen machen uns die Suche schwer. Mehr als einmal laufen wir im Kreis, denn aufgrund der fehlenden rechten Winkel ist es praktisch unmöglich sich nach Himmelsrichtungen zu orientieren. Am Ende der Via di San Pellegrino biegen wir links auf die Via Pietro und nehmen noch die Chiese Duchessa und di Santa Orsola mit, ehe wir vorbei an einem stattlichen, noch heute bewohnten Geschlechterturm mit Dachgarten die Fontana Grande erreichen. Der 800 Jahre alte Brunnen besteht in der Mitte aus zwei übereinanderliegenden Becken, von wo sich das Wasser in das Hauptbasin in Form eines Kreuzes ergießt. Von hier aus führt die stark befahrene Via Cavour zum Ausgangpunkt unseres Rundgangs zurück.

Natürlich besteht Viterbo nicht nur aus kunsthistorischen Baudenkmälern, sondern ist zugleich das zentrale Einkaufszentrum im nördlichen Latium. Die verwirrende Vielfalt von Schuhläden und Boutiquen auf der Hauptachse Via Roma-Corso Italia und den Nebenstraßen lässt Frauenherzen höher schlagen. Dazwischen sind in Abständen von wenigen Metern wie zufällig immer wieder Geldautomaten postiert. Es gibt jedoch einen Hoffnungsschimmer für die männlichen Begleiter: Der unvermeidliche Kaufrausch muss bis spätestens 13.00 Uhr beendet sein, denn während der Siesta schließen fast ausnahmslos alle Geschäfte bis mindestens 15.30 Uhr. Die Fortsetzung des Dramas am späten Nachmittag lässt sich dann geschickt mit dem Argument der langen Heimfahrt umgehen ;-)... Und als wir dann nach etwa 10 Kilometern auf der Via Cassia kurz vor Montefiascone den riesigen Schriftzug „Est! Est!! Est!!!“ erblicken, erahnen wir, dass es so etwas wie Gerechtigkeit geben muss.

Wie damals den alten Fugger zieht uns eine unsichtbare Kraft in die Herberge – ein zugegebenermaßen vergleichsweise nüchtern-modernes Ensemble aus Stahltanks, Lagerhallen und Paletten der örtlichen Cooperativa. Wie schon zuvor in Castiglione entscheiden wir uns ganz spontan und unvoreingenommen für eine Degustation. Der Mitarbeiter, der gerade mit dem Einräumen von Weinkisten in Hochregale beschäftigt ist, improvisiert eine solche aus seinem Kühlschrank im Verkaufsbereich der Lagerhalle und vollzieht den Ausschank in unsägliche Plastikbecher.


Rocca

Der so hoch gelobte „Est! Est!! Est!!! di Montefiascone“ ist durchaus trinkbar, kann es aber bei weitem nicht mit einem Orvieto Classico oder gar Superiore aufnehmen. Die Prädikate, die italienischen Weinen neben dem üblichen DOC (Denominazione di Origine Controllata – die kontrollierte Ursprungsbezeichnung, vergleichbar mit dem deutschen QbA), DOCG (Denominazione di Origine Controllata et Garantita – das Gleiche, nur mit Garantie) und IGT (Indicazione Geografica Tipica) verliehen bekommen, sind zum Teil verwirrend. Der Zusatz „Classico“ bezeichnet den genau festgelegten Kern eines traditionellen Anbaugebietes (z.B. Chianti oder Orvieto). „Superiore“ informiert über eine längere Lagerzeit als üblich. „Riserva“ und „Riserva speciale“ sind dann die Steigerung davon. Natürlich nehmen wir anstandshalber ein Kistchen mit, zumal unsere Vorräte im Haus sich dem Ende zuneigen und ein Supermarkt an diesem Tag nicht mehr erreichbar ist. Am Ende des Urlaubs ist der Montefiascone ausgetrunken – dank sei dem Kamin in unserem Casa. Als Zugang für den heimischen Keller kommt er sowieso nicht in Frage, dafür ist die Konkurrenz um Orvieto zu groß und der Platz im Auto zu kostbar.