Andalusien - Costa de la Luz

Unter der Sonne Afrikas

Als es mir 1998 erstmalig gelang, einen Fuß auf das spanische Festland zu setzen, weilten wir auf einem Ausflug im nordportugiesischen Nationalpark Peneda-Gerês und nutzten spontan die Gelegenheit zu einem klammheimlichen Grenzübertritt nach Galizien. Zugegeben eine erbärmliche Statistik, zieht man den durchschnittlichen Bundesbürger und sein typisches Reiseverhalten als Maßstab heran und Grund genug, eine bestens ausgerüstete Großexpedition in Spaniens südlichste und größte Festlandsregion zu unternehmen.

Eine zuvorkommende Freundin vom Sport hat mir eine private Wohnung einer Bekannten in Conil, einem Städtchen an der Costa de la Luz, Andalusiens südlicher Atlantikküste, empfohlen. Jene ist zwar frei, jedoch Juli und August ist nicht nur bei uns Hauptreisezeit, sondern vor allem bei den Iberern! Nur nach schweißtreibender Suche ergattere ich vier gerade noch bezahlbare Flüge über Palma de Mallorca nach Jerez de la Frontera. Zurück geht es dann via Madrid und somit haben wir schon mal etwas über Spanien zu berichten.

Eine rund einstündige Autofahrt trennt uns vom Urlaubsdomizil im obersten Geschoss eines modernen Apartmenthauses. Von der dortigen Südterrasse genießen wir den Sunsetblick über die Dächer bis zum Atlantik.

Conil de la Frontera

und seine Umgebung platzen im Hochsommer aus allen Nähten, wenn Madrilenen und Sevillaner es in Ihrer Gluthitze nicht mehr aushalten und vergnügungssüchtig über die Badeorte an der Costa de la Luz herfallen. Schon am ersten Abend entdecken wir hinter dem historischen Stadttor ein endloses zum Meer hin abfallendes Gassengewirr mit Boutiquen, Surfshops und vor allem stimmungsvollen Lokalitäten: Bodegas, Cervecerias und Restaurantes so weit das Auge reicht - angeblich 362 an der Zahl. Durch die engen Sträßchen zwängen sich laut palavernde Heerscharen und zelebrieren einen allabendlichen Paseo erster Güte. Glücklicherweise sind wir von einer gefürchteten Ballermann-Atmosphäre mit stampfenden Partyhits weit entfernt. Im Gegenteil: Das überwiegend spanische Publikum vergnügt sich ausgesprochen zivilisiert – im Gegensatz zu Nord- und Mitteleuropäern an anderen Orten dieses Landes. Trotz regem Alkoholkonsum: Ausgesprochen positive Stimmung und keine Besinnungslosen in der Ecke.

Einziger Wermutstropfen ist die mit dem enormen Andrang einher gehende Blechlawine. Jede abgelegene Gasse bis an den Stadtrand ist gegen Abend mit atemberaubender Präzision bis auf den letzten Zentimeter zugestellt, so dass ein Fortkommen nur noch bei eingeklappten Außenspiegeln denkbar ist.

Conil de la Frontera

Direkt unterhalb der Promenade beginnt eine überwältigende Dünenlandschaft und dahinter liegt der 16 Kilometer lange, nur durch die Mündung des Rió Salado unterbrochene feine Sandstrand, an dem sich selbst am Wochenende noch ungestörte Plätze finden lassen. Je nach Gezeitenstand lässt dieser endlose Spaziergänge im festen Brandungsbereich zu oder man erfreut sich bei Flut auf Sandbänken und lässt sich von den darauf entstehenden mannshohen Atlantikwellen weghauen.

Der Torre Guzmán eröffnet von seiner Spitze das ultimative Conil-Panorama und ist, man höre und staune, obendrein auch noch kostenlos zugänglich – ein seltener Glücksfall im krisengeschüttelten Spanien. Neben diesem aus dem 16. Jahrhundert stammenden Überbleibsel der Stadtbefestigung gibt es nicht all zu viele historische Bauten. Ebenfalls an der Plaza Santa Catalina gegenüber steht die gleichnamige Kirche, auch hochtrabend ‚Catedral' genannt – ein eigenwilliges maurisches Stilgemisch aus dem 16. bis 19. Jahrhundert.

Conil de la Frontera - Torre de Castilnovo (16. Jh.)

Nach einem gut halbstündigen Spaziergang vom südlichen Ortsrand entlang verlassener Viehweiden mit alter Tränke und Dünen erreiche ich einen weiteren einsam am Strand stehenden Wachturm. Der Torre de Castilnovo aus dem 16. Jahrhundert war einst Teil eines Frühwarnsystems gegen Piratenüberfällen, jedoch wurde das zugehörige Fort 1755 ein Opfer des Tsunamis nach dem verheerenden Seebeben vor Lissabon. Auf der landeinwärts gelegenen Seite führt eine schwindelerregend schmale Treppe hinauf in den Sockelbereich. Von hier aus erblicke ich nur noch die Fensterluken der oberen Stockwerke. Die hölzernen Geschosse gingen wohl schon vor Jahrhunderten verloren.

Nach Mitternacht werden wir von Trommeln und Marschmusik aufgeschreckt. Vom Gemeindezentrum weiter oben im Ort hat sich eine Gruppe von etwa 35 enthusiastischen jungen Männern aufgemacht und trägt im Gleichschritt zur Musik ein zentnerschweres Podest über die Straße – die Generalprobe für die Himmelfahrtsprozession. Am 15. August steht dann die überlebensgroße Madonna drauf und darf keinesfalls in Schieflage geraten.

Wie Anfangs erwähnt: Ein durchaus lebendiger Ort und so sehen wir zu, dass wir gleich am nächsten Tag auf der Suche nach ein wenig Ruhe die nähere Umgebung erkunden.

Vejer de la Frontera

Das unmittelbare Nachbarstädtchen von Conil gilt als eines der schönsten Pueblo Blancos in der Provinz Cadiz. Tatsächlich wirkt bereits die exponierte Hügellage mit ihrem Saum weiß getünchter Häuser vielversprechend. Von der nördlichen Zufahrt geht es die Calle los Remedios hinauf und dann in die Calle Corredera über, welche links von einer prächtigen mit Balustraden begrenzten Marmorterrasse flankiert wird. Hier haben einige Restaurants ihre Außentische platziert, von denen man einen Panoramablick über die weite Ebene bis nach Medina Sidonia genießt. Diesen lassen wir uns nicht entgehen, auch wenn uns orkanartige Böen die Frisur zerzausen. Der Kellner des El Califa rückt mit stoischer Gelassenheit die Tischgedecke wieder gerade, bevor er eine Auswahl arabisch inspirierter Tapas kredenzt.

Weiter oben gelangen wir rechts am maurischen Castillo durch den Arco de Sancho IV in das Labyrinth der Altstadt. Schmale Gassen öffnen sich zu lauschigen Plätzen. An den Arco de la Villa grenzt die Plaza de España, eine mit Brunnen, Azulejos und Palmen geschmückte ehemalige Stierkampfarena. Auch hier haben sich einige Restaurants und Bars angesiedelt. Man sitzt halb auf der Straße und beobachtet die städtischen Elektriker, wie sie von einer Hebebühne unter Einsatz von Leib und Leben Stromkabel von Balkonen über die Straße ziehen. Bis zur großen Himmelfahrtsprozession muss die Festbeleuchtung stehen. Am Ende der Plaza Richtung Calle Merced kommt wieder das Castillo in Form des Torre del Mayorazgo, einem Wachturm zum Vorschein.

Vejer de la Frontera - Schwippbögen an der Iglesia del Divino Salvadora

Zurück im Gassengewirr gelangen wir an einem der höchsten Punkte zur Iglesia del Divino Salvador, deren Turm noch den Sockel eines ehemaligen Minaretts erahnen lässt. Auch in den übrigen Bauteilen spiegeln sich Elemente der Gotik und des Mudéjarstils wider. Schöpfer dieser Sakralbauten waren meist hochqualifizierte Handwerker aus der ehemaligen maurischen Bevölkerung Südspaniens, denen die neuen christlichen Herrscher erlaubt hatten zu bleiben. Ein von Palmen umsäumter Innenhof und ein kleiner Laden mit geschmackvollen Keramiksouvenirs grenzen unmittelbar an das Gotteshaus. Zu den meistfotografierten Motiven gehören die Schwippbögen seitlich der Kirche, durch welche sich ein malerischer Blick auf die Neustadt auf dem Nachbarhügel eröffnet. Die anschließende Calle Juderia, ein schmaler lichter Gang, deutet auf die Lage des ehemaligen Judenviertels hin.

Im Gegensatz zu solch dörflichem Idyll steht das nächstgelegene berühmte und pulsierende

Cadiz,

rund 50 Kilometer nordwestlich von Conil. Mit rund 3000 Jahren dürfte das phönizische Gadir nicht nur die erste größere Siedlung auf der iberischen Halbinsel, sondern eine der ältesten Städte Westeuropas sein. Die darauf folgenden Karthager machten sie zu ihrem bedeutendsten Seehandelszentrum, bevor schließlich die Römer das Heft an sich rissen und Gades zu einer der größten und bedeutendsten Städte im Reich avancierte. Die heutige Lage an der Spitze einer langgestreckten Halbinsel, fast vollständig umgeben vom Meer, ist aber auch einzigartig. Die hoch verdichtete Bebauung und das schachbrettartige Straßennetz deuten daraufhin, dass bereits zu spanischen Kolonialzeiten eine gewisse Platznot auf der damaligen Insel geherrscht haben muss. Die 126 bis heute erhaltenen Wachtürme auf den Häusern der reichen Kaufmannsfamilien zeugen vom regen Überseehandel mit den spanischen Kolonien. In der Nähe der Kathedrale finden sich Ausgrabungen eines Theaters und ehemaliger Zisternen im Casa del Obispo aus römischer Zeit.

Wie so oft erschließt sich das wahre Ausmaß einer Stadt erst durch den Blick von oben. Sowohl der Westturm der Catedral de Santa Cruz als auch der 45 Meter hohe Torre Tavira mit seiner riesigen Camera obscura offenbaren die untrennbare Verbindung Cadiz' zum Atlantik. Hier lagen die legendären spanischen Armadas vor Anker, was die verfeindeten Engländer zu mehreren spektakulären Überfällen und Plünderungen veranlasste. Von hier lief auch 1805 die französisch-spanische Flotte unter Villeneuve zu ihrer letzten Fahrt aus, bevor sie von Admiral Nelson vor Trafalgar vernichtend geschlagen wurde.

Cádiz - Catedral de Santa Cruz (1720-1838, Glocke Westturm)

Wir beginnen unsere Tour mit der Kathedrale, da das unmittelbar davor liegende römische Theater aufgrund von Sanierungsarbeiten derzeit nur durch einen Zaun zu erspähen ist. Die benachbarte Iglesia de Santa Cruz, den wesentlich älteren Vorgängerbau aus dem 13. Jahrhundert, hätten wir aufgrund seiner Gedrungenheit fast übersehen. Auf dem Weg zum Tambour des Torre Poniente, dem westlichen der beiden Türme, steigen wir durch die doppelte Verschalung der Kuppeln und weiter über eine steinerne Wendeltreppe bis auf die Plattform des Glockenturms. An den Pfeilern vorbei blicken wir in alle Himmelsrichtungen auf das beeindruckende Panorama einer maritimen Metropole.

Cádiz - 360° Panoramablick vom Torre Tavira

Kerzengerade verlaufen die Straßen in Cadiz, links und rechts flankiert von nicht enden wollenden Reihen verglaster Balkone. Der Raum war hier stets kostbar, daher finden sich nur wenige weitläufige öffentliche Plätze innerhalb der Stadt. So zum Beispiel die Plaza de España mit dem Cortez-Denkmal von 1912 in Hafennähe. Oder die Plaza Libertad mit dem markanten Gebäude des Edificio de Correos und dem Mercado Central. Unweit davon erhebt sich der Torre Tavira, der wohl bekannteste der Wachtürme. Auf seiner Spitze montiert die Camera obscura, ein hohler Kasten dessen eingefangenes Licht nach einem uralten Prinzip via Spiegelsystem auf eine nach innen gewölbte Fläche eine Etage tiefer projiziert wird. Die eingefangenen alltäglichen Szenen im abgedunkelten Raum erscheinen gestochen scharf und lebendig. Die verblüffend einfache Technik lässt eine 360°-Beobachtung und sogar Vergrößerungen zu.

Das Oratorio de San Felipe Neri in der Calle Santa Inés, eine von Gedenktafeln übersäte Barockkirche, war 1810-12 Tagungsort der Cortes, einer Ständeversammlung zur Ausarbeitung der ersten liberalen Verfassung Spaniens. Diese war zunächst nur von kurzer Gültigkeitsdauer, wurde jedoch in späteren Verfassungen zum Teil wörtlich übernommen.

Noch weiter westlich stoßen wir irgendwann auf das Gran Teatro Falla (1884), der im eigentümlichen Neo-Mudejar-Stil errichteten heimischen Spielstätte des Komponisten Manuel de Falla.

Cádiz - Jardines de la Alameda (111-jähriger Ficus macrophylla)

Wer eine der unendlich langen Straßenschluchten bis zum Ende läuft, landet in der Regel an einer Uferpromenade, z.B. in den Jardines de la Alameda, einer sehenswerten Grünanlage am nördlichen Ende der Halbinsel. Zwei bemerkenswerte 111-jährige Exemplare der Gattung Ficus macrophylla erscheinen wie aus einer anderen Welt und ziehen den Spaziergänger mit ihren ausladenden Armen in den Bann.

Das Viertel südlich der Alameda ist ‚berüchtigt' für seine Bars: Mitten auf der Calle Zorilla steht man vor den zum Teil offenen Ladenlokalen an Fässern oder Stehtischen, vertilgt Unmengen von Tapas, Bier und Wein und lässt alles fallen, was nicht mehr gebraucht wird.

Ein paar Straßenzüge weiter westlich erblicken wir mit dem Parque Genovés die größte und prachtvollste aller Gartenanlagen in Cadiz: Opuntien, Drachenbäume, Magnolien, Dattelpalmen – subtropische Gewächse aus allen Erdteilen sind hier heimisch.

Cádiz - Castillo de Santa Catalina

Die Westseite unterhalb des Castillo de Santa Catalina wird von der Playa de la Caleta, dem Stadtstrand dominiert. Auch hier haben zwei riesenhafte Gummibäume aus der Zeit um 1900 bis heute überdauert. Der Balneario de la Palma aus dem Jahre 1926 war bereits Schauplatz einzelner Szenen in einem James-Bond-Abenteuer. Den oberen Abschluss der kleinen Bucht markiert das erwähnte Castillo, gegen Ende des 16. Jahrhunderts nach einem anglo-holländischen Angriff per königlichem Dekret errichtet. Das Innere der sternförmigen Bastion sollte man nicht verpassen: Es verfügt über eine eigene Kapelle, ein Militärgefängnis und bietet vom Wehrgang malerische Motive vor dem Hintergrund des Atlantiks.

Am südlichen Ende der Küste des Lichts offenbart jedoch das Städtchen

Tarifa

an der Verbindungsstraße zweier Meere und vor dem afrikanischen Kontinent eine noch wahrhaft dramatischere Kulisse. Um 711 begann in dieser Gegend unter Tariq ibn Ziyad der achtjährige maurische Eroberungsfeldzug auf der iberischen Halbinsel. Tarifa ist heute nicht nur ein bedeutender Fährhafen für Verbindungen nach Tanger in Marokko und somit berüchtigter Umschlagplatz für den Drogenschmuggel aus Nordafrika sondern auch ein Hotspot der weltweiten Wind- und Kite-Surfer-Community. Die Winde erreichen hier regelmäßig Orkanstärke, so dass sich wirklich nur noch echte Cracks aufs Brett trauen. Insbesondere der Levante, ein ablandiger Ostwind aus dem Mittelmeer wird durch die Verengung in der Straße von Gibraltar beschleunigt und bläst jede Menge Sand, Staub und lästige Insekten den Strandbesuchern um die Ohren und auf den Atlantik hinaus. Die sonst feinsandigen Strände sind anschließend wie leer gefegt und bretthart.

Tarifa - Puerta de Jerez (14. Jh.)

Nähert man sich aus Richtung Nordwesten, passiert man zunächst die Neubauviertel, deren Infrastruktur mit ihren zahllosen Szenelokalen, Surfshops und -boutiquen eindeutig auf die erwähnte Klientel zugeschnitten ist. Am Ende der Calle Batalle del Salado stoßen wir auf die Puerta de Jerez, das historische Eingangstor zur Altstadt.

Tarifa - Supertanker in der Straße von Gibraltar

Auch wenn alle Welt Gibraltar verallgemeinernd als das Ende Europas bezeichnet, ist dies aus geographischer Sicht eindeutig falsch. Rund 15 Kilometer weiter südwestlich liegt mit Tarifa oder genau genommen mit der durch einen Damm verbundenen Isla de las Palomas nicht nur der südlichste Punkt des Festlandes sondern auch die schmalste Stelle der Straße von Gibraltar. Nur noch 14 Kilometer trennen hier Spanien von Marokko, Europa von Afrika. Die Insel selbst ist militärisches Sperrgebiet, so wie viele andere strategisch bedeutsame Flecken rund um dieses maritime Nadelöhr. Bei günstigem Wetter und vor allem in den klaren Abendstunden scheint hier das Atlasgebirge und der Dschebel Musa, eine der antiken Säulen des Herkules, zum Greifen nah – besonders eindrucksvoll von der Plazuela del Viento oder vom Castillo de Guzmán aus zu beobachten. An der Küste erkennen wir die riesigen Abfertigungsanlagen und Raffinerien eines zu Tanger gehörenden Containerhafens, während im Vordergrund die Supertanker die Einfahrt zum Mittelmeer passieren.

Abseits der Küstenlinie zeichnen die zerklüfteten und von urwüchsiger Natur durchzogenen Landschaften des

Parque Natural de los Alcornocales und der Sierra de Grazalema

Alcalá de los Gazules

ein völlig konträres Bild. Der lange Weg über schmale und kurvenreiche, jedoch gut ausgebaute Gebirgsstraßen nach Ronda führt uns vorbei an üppiger, menschenleerer Natur. Schwer auffindbare Abzweigungen zwingen mich zu einem ersten Zwischenstopp in Alcalá de los Gazules, um einen Blick auf die Straßenkarte werfen. Vom Parkplatz aus bewundere ich die exponierte Hügellage der Häuser. Danach geht es durch endlose Wälder von wilden Olivenbäumen, Kork- und Steineichen. Immer wieder bieten sich nach engen Kurven neue phantastische Gebirgspanoramen.

Parque Natural de los Alcornocales - im Hintergrund Ubrique

Am Ende des Parque Natural de los Alcornocales machen wir in einem weiteren Pueblo Blanco Rast. Ubrique liegt am Rande der Sierra de Grazalema weit ab von jeglichen Touristenscharen. In der Avenida de la Diputación, einer Straße am Ortsrand, finden wir die offene Tapasbar La Herradura und sind angenehm überrascht, wie unverfälscht und vor allem günstig Essen in Spanien sein kann. Neben den köstlichen Thunfischfrikadellen beeindrucken auch die Croquetas: Sehen aus wie unsere klassische Kartoffelware, jedoch innen mit cremiger Fischpaste. Der überbackene Camembert kommt mit karamellisierten Zwiebeln daher. So gestärkt geht es auf die letzte Etappe durch felsige karge Natur nach

Ronda.

Wann immer die Rede vom südlichen Spanien war, erschien das berühmte Bild des unglaublich steilen, die beiden Stadtteile verbindenden wahnwitzigen Viadukts vor meinem geistigen Auge. Und tatsächlich gilt Ronda als die spanische Stadt schlechthin: Gleißendes Sonnenlicht, flimmernde Hitze, steinerne Monumente, Stierkampf und ein bedeutendes maurisches Erbe – alle denkbaren Klischees an einem Ort vereinigt.

Ronda - Iglesia del Socorro

Am Nachmittag, als es mal wieder am unerträglichsten ist, treffen wir von Norden über die Calle Sevilla kommend im Parkdeck unterhalb der Plaza del Socorro ein. Der Platz wird an der Längsseite von der Iglesia del Socorro und ihren beiden Türmchen dominiert, einem schmucken Neubau aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, nachdem die Vorgängerkirche 1936 komplett abgebrannt war.

Ronda - Plaza de Toros (1785)

Durch die schmale Calle Pedro Romero, einem Fußgängerweg, erreichen wir die Plaza de Toros, die berühmte, bis heute genutzte Stierkampfarena von 1785. Eine Besichtigung ist selbst für entschiedene Gegner dieses fragwürdigen Spektakels empfehlenswert, wie ich feststellen muss. Die kreisrunde, mit Sand bedeckte Fläche ist von doppelstöckigen, durch italienische Säulen getragene Ränge umgeben und erinnert sehr stark an eine römische Gladiatorenarena. Mit ihrem klassischen Baustil und den verwendeten natürlichen Materialien bildet sie doch einen sehenswerten Kontrast zum Betoneinerlei moderner Stadien. Bis zu 5000 Zuschauer finden darin Platz. Das angeschlossene Museum erspare ich mir, zumal hier die Glorifizierung einer zweifelhaften Tradition im Mittelpunkt steht. Es sei jedoch erwähnt, dass Ronda bei Spaniern den Ruf eines Mekkas genießt, seit hier im 18. und 19. Jahrhundert die modernen Regeln des Stierkampfes entwickelt wurden. Die angeschlossenen ebenfalls zugänglichen Stallboxen vermitteln ein bedrückendes Gefühl, unter welch beengten Verhältnissen die Kampfstiere ihre letzten Stunden verbringen.

Ronda - El Puente Nuevo (18. Jh.) und El Tajo

Gut hundert Meter weiter südlich stehen wir auf dem Fußweg am Parador vor El Tajo, der tiefen Schlucht des Río Guadalevín. Die Brücke, welche die beiden Teile El Mercadillo, die Neustadt und La Ciudad, die historische Medina verbindet, ist ein Meisterwerk der Architektur, an dem 42 Jahre lang gebaut wurde. Der vierbogige El Puente Nuevo überspannt mit seinen direkt aus der Schlucht gewonnenen Natursteinquadern 100 Höhenmeter und wurde 1802 fertig gestellt. Blickt man oben nach Osten oder Westen in den Abgrund, so scheint es keinen natürlichen Zugang zur maurischen Altstadt zu geben, was ihr bis ins Mittelalter den Nimbus der Uneinnehmbarkeit verschaffte.

Neben dem Puente Nuevo existieren noch zwei erheblich kleinere Brücken über den Río, zum einen der Puente Viejo von 1616 und der noch von maurischen Architekten erbaute Puente Romano aus dem 9. Jahrhundert.

Ronda - Casa Consistorial (Ayuntamiento; 1734)

La Ciudad, das historische Zentrum jenseits der Schlucht, beeindruckt durch seine verwinkelte Altstadt mit historischen Gebäuden wie dem Casa del Gigante, einem nahezu vollständig erhaltenen Stadtpalast aus der Nasridenzeit (14. Jahrhundert). Die herrliche Plaza Duquesa de Parcent beeindruckt mit dichtem Baumbestand, um die sich einige der bedeutendsten Sakralbauten gruppieren: Die Iglesia de Santa Maria la Mayor mit ihrem aus einem früheren Minarett hervorgegangenen Glockenturm und angeschlossenen Kloster und das langgezogene Casa Consistorial, Sitz der Stadtverwaltung.

Ronda - Minarett (14. Jh.)

Das Alminar de San Sebastián, ein ehemaliges, zu einem Glockenturm umfunktioniertes Minarett aus dem 13. Jahrhundert, ist einer der wenigen Überreste aus maurischer Zeit, welche Reconquista und Erdbeben überdauert haben.

Die rund 350 Kilometer Gebirgsfahrt haben ihre Spuren hinterlassen und wir beschließen, den nächsten Tag in Küstennähe zu verbringen. Das beschauliche und etwas provisorisch wirkende

Bolonia,

Bolonia - Duna de Bolonia

ein Ortsteil von Tarifa, liegt an einer eigenen Bucht und hat, neben seiner Bedeutung als Extremsurfrevier eine mächtige Düne und eine der besterhaltenen römischen Siedlungen vorzuweisen. Schon von weitem sind die leuchtenden, einen bewaldeten Hang hinauf kletternden Sandmassen unübersehbar. Befördert vom Levante, dem schneidenden Südostwind, wachen sie stetig und unaufhaltsam in einen Pinienwald hinein. Auch am heutigen Tag erreicht dieser an den Kämmen der Düne Orkanstärke, so dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Sandkörner bohren sich wie tausend Nadelstiche in die Haut und ich mache mir ernsthafte Sorgen um meine Kameras. Schnell wieder runter hier …

Der neu erbaute Holzsteg zur bequemen Erkundung dieses Naturwunders führt geschützt am Pinienwald entlang und an der ehemaligen römischen Industriesiedlung Baelo Claudia vorbei. Bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. wurde hier das begehrte Garum, eine deftige vergorene Fischsauce produziert. Reste dieser Anlage sowie einer Basilika, einer Badeanlage und eines Theaters sind für uns großzügige EU-Bürger kostenlos zu besichtigen.

Wenn wir schon dabei sind, das Urlaubsbudget zu schonen, dann darf ein Ausflug zum nahe gelegenen und natürlich frei zugänglichen

Cabo de Trafalgar

Los Caños de Meca - Kite-Surfer bei Südostwind

keinesfalls fehlen. Die Landzunge zwischen Conil und Barbate erreicht man nach einem bequemen, aber sehr windigen Spaziergang über die Bucht von Los Caños de Meca. Unterwegs verfolgen wir ungläubig die aberwitzigen Stunts der Kite-Surfer, welche mit enormer Geschwindigkeit landeinwärts rasen, um sich dann in einer 180°-Wendung gleichzeitig viele Meter in die Luft katapultieren zu lassen. Mit Kameras bewaffnete Freunde am Strand halten derweil den Irrsinn für die Nachwelt fest.

Am Ende der Bucht, dem Tómbolo de Trafalgar, thront ein Leuchtturm aus dem 19. Jahrhundert. Davor sind die Überreste eines maurischen Beobachtungsturms erhalten. Die Umgebung ist wenig spektakulär und auch der weite Blick über den Atlantik lässt kaum erahnen, dass hier vor über 200 Jahren eine der berühmtesten Seeschlachten den Lauf der Weltgeschichte entscheidend verändert hat.

Cabo de Trafalgar - Faro (1860)

Am 21. Oktober 1805 traf die aus Cadiz kommende französisch-spanische Armada auf die britische Flotte unter Admiral Nelson. Mit einer neuartigen Angriffstaktik, welche die feindliche Linie durchbrach und erbitterte Nahkämpfe und Kollisionen zur Folge hatte, konnte dieser den zahlenmäßig überlegenen gegnerischen Verband bezwingen, wurde aber während der Schlacht tödlich von einer Musketenkugel getroffen. Insgesamt fielen rund 5000 Seeleute den Kämpfen zum Opfer, die meisten davon Spanier und Franzosen. Nelsons Leiche hat man, konserviert in einem gefüllten Brandyfass, zunächst nach Gibraltar und dann später nach London überführt. Der Admiral wurde in St. Paul's feierlich beigesetzt und mit einer Säule auf dem Travalgar Square verewigt. Die Briten erbeuteten 17 gegnerische Schiffe, wobei ein Teil der Armada nach der Schlacht in einem verheerenden mehrtägigen Sturm sank. Knapp 200 Jahre später wurden 15 der Fracks am Meeresgrund geortet. Seitdem ist der Streit um die Bergung der vermeintlich wertvollen Fracht zwischen Spanien und Großbritannien in vollem Gange. Napoleons Anspruch auf die Vorherrschaft zur See war von diesem Tage an endgültig gebrochen und der Niedergang seines Machteinflusses auf dem Festland eingeleitet.

Nirgendwo anders wird der Anspruch der Briten auf permanente Präsenz in diesem abgelegenen Teil Europas deutlicher als in

Gibraltar.

Der gewaltige Felsen kurz vor der nordafrikanischen Küste ist für uns ein Muss. Nicht so sehr wegen der außerordentlichen kulturellen Attraktionen – davon gibt es in Andalusien erlesenere Ziele als dieser Hort der Briefkastenfirmen – auch nicht als Steueroase, sondern wegen der skurrilen politischen Konstellation und natürlich nicht zuletzt auch aufgrund der weltberühmten Affenkolonie. Seit 1704 sitzen die Briten auf dieser kleinen Halbinsel, auch wenn danach mehrere Rückeroberungsversuche von spanischer Seite scheiterten und selbst in jüngster Zeit immer wieder am Status Quo gezweifelt wird.

Gibraltar - The Rock

Nach der Anfahrt über Tarifa und den schwindelerregenden Mirador del Estrecho windet sich die E5 bis hinunter nach Algeciras, einem vielfach größeren Moloch von Hafenstadt genau gegenüber von Gibraltar. Wir parken in La Linea de la Conception, einem trostlosen spanischen Flecken direkt an der Grenze, nur einen kurzen Fußmarsch von der Passkontrolle entfernt. Der Zollbeamte glänzt mit feinsten britischen Scherzen („Entry for persons with first name X only on Thursdays!"), dann geht alles sehr schnell und wir sind drin. Oder besser gesagt drauf, nämlich auf der Landebahn des Flughafens. Diese muss jeder überqueren, der in die Stadt will – einmalig auf der Welt. Selbstverständlich gibt es Schranken, damit man nicht versehentlich von einem Jet weggepustet wird. Danach kommt erstmal ein furchtbar langweiliges Neubauviertel, dessen Hochhäuser auch durch die phantasievollen Eigennamen nicht schöner werden. Erst ab dem historischen Stadttor wird es interessanter. Der sogenannte Landport Tunnel führt durch die Befestigung direkt in die Altstadt. Diese besteht im wesentlichen aus der Main Street, hier reiht sich ein Laden mit zollfreien Waren an den anderen.

Erst auf dem großen Parkplatz vor den Botanic Gardens sind wir am Ziel: Dem Cable Car, eine Seilbahn Schweizerischer Ingenieurskunst, welche uns vierköpfige Familie in nur sechs Minuten für stolze 50 € auf den 426 Meter hohen Upper Rock transportiert. Der Blick zurück auf das Hafengebiet ist atemberaubend. Oben angekommen erwarten uns schon die ersten Berberaffen lässig auf der Brüstung der Bergstation lümmelnd. Mit gleichgültigem Blick mustern sie die Besucher und verfolgen potentielle ‚Opfer', sprich Touristen mit Essbarem in ihren Taschen. Nur ein kurzer Griff in unseren Rucksack genügt und es streckt sich auch schon die erste Hand danach aus, so dass wir sicherheitshalber das Weite suchen.

Gibraltar - Upper Rock Nature Reserve (im Hintergrund La Linea)

Wir bestaunen zunächst auf der Terrasse das heillose Häusermeer in der Bucht von Algeciras und verlassen anschließend die Bergstation in Richtung Süden. Von der leicht ansteigenden Signal Station Road über den von Macchia und Olivenbäumen bewachsenen Felsrücken zweigen steile Betonstufen links ab. Natürlich siegt wie so oft die Neugier und wir steigen den Makaken hinterher. Überall sitzen oder liegen kleine Grüppchen und lausen sich gegenseitig. Geschützlafetten aus dem 2. Weltkrieg, Behausungen, Zisternen – verlassene militärische Einrichtungen aller Art wurden von der Affenkolonie in Besitz genommen. Gnädigerweise gewähren uns die Hausherren Zutritt. Es gelingt mir sogar, mich in greifbare Nähe zu einem stillenden Weibchen zu setzen, während das Junge arglos an ihr herumturnt.

Gibraltar - 'Hier Luigi, probier mal: Echt hartes Zeug ... hab' ich aus der Tasche von der Perückentussi besorgt!'

Als wir wieder auf dem regulären Weg sind, werden wir Zeuge eines generalstabsmäßigen Raubüberfalls: Eine reichlich bepackte amerikanische Familie hat ausgerechnet ihrer Tochter die schwere Kühltasche anvertraut. Mehrere Affen haben die Situation längst erkannt und sich den Touristen an die Fersen geheftet. Als das Mädchen die Tasche erschöpft abstellt, schlagen die Gangster zu. Innerhalb von Sekunden stürzen sie sich auf das Beutestücke, öffnen fingerfertig alle Reisverschlüsse, holen sämtlichen Proviant heraus und reißen die Verpackungen auf. „Mummy, Mummy!" kreischt das Mädchen, „My passport, my passport!" der Vater, „Oh, my god! Oh, my god!" die Mutter, während die Bande seelenruhig Schokoriegel und Kekse vertilgt. Der Anführer verdrückt sich mit einer Prinzenrolle auf den nächsten Baum. Nach einigen Minuten geben die Affen das Gepäckstück wieder frei und natürlich haben sie die Passports nicht gefressen, sind ja nicht blöd.

Gibraltar - Mauer Karl V.

Unsere Rucksackträgerin weigert sich nach dieser skrupellosen Gewaltaktion, weiter den Hügel hinauf zu stapfen. Nur mit viel Überzeugungskraft schaffen wir es bis zur Mauer Karl V., welche um 1552 in der Mitte der Halbinsel errichtet wurde und senkrecht vom Fuß bis zum Kamm des Felsens verläuft. Wie ich finde ein lohnendes Ziel, welches ich mir doch nicht von schlecht erzogenen Primaten verleiten lasse. Hier liegt auch die offizielle, vom britischen Militär betreute Futterstelle für die Makakenkolonie.

Ein letzter Blick auf die vor mir liegende Felsspitze erinnert mich an die geologische und geschichtliche Bedeutung dieser Landmarke: Im Altertum bildete sie zusammen mit dem Dschebel Musa auf der afrikanischen Seite als Säulen des Herakles das Ende der damals bekannten Welt und dahinter lokalisieren bis heute nicht wenige Enthusiasten das sagenhafte Atlantis. Dazwischen befindet sich mit der Straße von Gibraltar die einzige natürliche Verbindung zwischen Atlantik und Mittelmeer, an ihrer schmalsten Stelle nur 14 Kilometer breit. Doch das war nicht immer so …

Unerklärliche Fossilienfunde in Italien und geologische Befunde in Südfrankreich ließen bereits im 19. Jahrhundert Paläontologen an eine zeitweise Austrocknung des Mittelmeeres glauben. Durch Tiefseebohrungen in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden schließlich Ablagerungen zu Tage gefördert, die zweifelsfrei in einem Flachmeer entstanden sein mussten und heute 100 bis 200 Meter unter dem Meeresgrund liegen. Die einzige Erklärung für dieses Phänomen war die Unterbrechung der Verbindung zum Atlantik in Folge gewaltiger tektonischer Umwälzungen an der Kontaktstelle zwischen Nordafrika und der iberischen Halbinsel und die folgende Verdunstung des Binnengewässers innerhalb weniger zehntausend Jahre. Ein weiteres Indiz ist der Tiefsee-Canyon vor der Mündung der Rhône – über hunderttausende von Jahren durch den abstürzenden Fluss in den Festlandsockel hineingeschnitten. Die Oberfläche des Mittelmeeres lag demzufolge noch vor rund 5,3 Millionen Jahren bis zu 2700 Meter unter der des Atlantiks.

Dann folgte etwas Ungeheuerliches: Der enorme Druck der atlantischen Wassermassen und die Erosion hatten der Landbrücke so zugesetzt, dass sich zunächst ein Rinnsal den Weg durch ein tiefes Tal bis hinunter in die wüstenähnlichen Salzbecken gebahnt hatte. Nach mehreren tausend Jahren war die Passage dermaßen ausgehöhlt, dass sich am Ende bis zu 100 Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde (!) ergossen und das Mittelmeer innerhalb von nur zwei Jahren komplett wieder auffüllten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die enormen Kräfte aus dem Untergrund die Erdkruste an dieser markanten Stelle wieder anheben und einen neuen Damm entstehen lassen. Dann beginnt der Zyklus der Austrocknung von neuem.

Gibraltar - Alameda Gardens (1816)

Nach diesem erdgeschichtlichen Exkurs treten wir die Talfahrt an, vorbei an über alte Festungsmauern turnenden Berberaffen, unserer kleinen unbedeutenden Zivilisation entgegen. Unten werfen wir noch einen Blick in die La Alameda Gardens, Gibraltars botanischem Refugium, welches 1816 als Erholungsort für hier stationierte britische Soldaten angelegt wurde. Zahlreiche subtropische Gewächse aus allen Gegenden der Welt finden sich hier. Kurz hinter dem Eingang erhebt sich das Denkmal für George Augustus Eliott, dem Gouverneur während der großen vergeblichen Belagerung von 1779-83 durch spanische und französische Truppen.

Dauerhaft erfolgreicher im ewigen Streben nach Macht und Wohlstand waren hingegen die Herzöge von

Medina Sidonia,

welche immerhin seit 1445 diesen Titel führen. Auch wenn eine der einflussreichsten Familien Andalusiens den Namen der Stadt berühmt gemacht hat, so hat diese heutzutage allenfalls die Bedeutung einer ländlichen Gemeinde. Drei Jahrtausende Siedlungsgeschichte – Medina Sidonia wurde ebenso wie Cadiz von den Phöniziern gegründet und später von den Römern besetzt – zeigen jedoch, dass sie zu Unrecht von den meisten Reiseführern nur am Rande erwähnt wird. Hinterlassenschaften aus der maurischen Epoche und der nachfolgenden Reconquista sowie die freigelegte römische Kanalisation bilden einen Kontrast zu Straßenzügen mit verfallenen Häusern. Wir schreiten über die großzügige trapezförmige Plaza de España mit dem abschließenden Rathausbau am spitzen Ende. Danach geht es steil die Altstadtgassen hinauf.

Medina-Sidonia - Iglesia de la Victoria (17. Jh.)

Von der Terrasse des Restaurante La Vista haben wir einen phantastischen Panoramablick über die gesamte bis heute maurisch geprägte Medina und zwei historische Kirchen: Die kreuzförmige Iglesia de la Victoria und die im Mai diesen Jahres teilweise eingestürzte Iglesia de San Agustín. Auf gleicher Höhe, in unmittelbarer Nachbarschaft erhebt sich die prächtige Iglesia de Santa María la Coronada, eine gelungene Stilmischung aus Gotik, Renaissance und Barock aus dem 15. bis 17. Jahrhundert.

Medina-Sidonia - Arco de la Pastora (10. Jh.)

Oberhalb der Kirche erstreckt sich das Plateau mit Überresten der Burg und des Alcazars. Die schön restaurierte arabische Stadtmauer wird am nordöstlichen Ende vom sehenswerten Arco de la Pastora, einem Stadttor aus dem 10. Jahrhundert durchbrochen. Etwa fünf Kilometer südlich an der Ausfallstraße findet sich mit dem perfekt erhaltenen Puente de la Hoya aus dem ersten Jahrhundert ein beeindruckendes Zeugnis römischer Architektur.

Während Medina Sidonia sein Selbstverständnis eher aus vergangenen Epochen bezieht, verfügt

Jerez de la Frontera,

Jerez de la Frontera - Catedral (17. Jh.)

als Sitz der königlich-andalusischen Reitschule und Zentrum des Flamenco ohne Zweifel über Standortvorteile in der heutigen Gegenwart. Die größte Stadt der Provinz Cadiz hat nicht nur den einzigen, hinter einem Wirrwarr sinnfreier Verkehrskreisel verborgenen Flughafen sondern mit dem Alcazar de Jerez auch eine vollständig erhaltene arabische Festung aus dem 11. Jahrhundert. Die gegenüber liegende ausladende Kathedrale aus dem 17. Jahrhundert weist neben neoklassizistischen und barocken Elementen ein markantes gotisches Strebewerk auf.

Jerez de la Frontera - Gallo Azul (1928)

Ein weiteres Wahrzeichen findet sich mit dem Gallo Azul am Beginn der Haupteinkaufsstraße Calla Larga: Der Backsteinrundbau wurde 1928 anlässlich der Ibero-Amerikanischen Ausstellung im Neomudéjarstil errichtet. Im westlich des Alcazars gelegenen Viertel der Gitanos verbirgt sich mit der Iglesia de San Miguel und der benachbarten Capilla del Sagrario (1718-59) eine der prachtvollsten Kirchenkomplexe der ganzen Stadt.

Inmitten des ältesten Viertels der Stadt erheben sich an der Plaza de la Asunción mit der Iglesia de San Dionisio, einer ehemaligen Moschee und dem alten Rathaus (Antiguo Cabildo) aus dem 16. Jahrhundert zwei weitere Kulturschätze der Provinz.

Bei aller historischer Pracht darf natürlich die wichtigste Errungenschaft der Stadt nicht unterschlagen werden, denn die überall in der Stadt aufgetürmten Fässer lassen keinen Zweifel aufkommen: Der Vino de Jerez oder auch einfach nur Sherry wie er dank englischer Sprachbeugung des alten arabischen Namens in aller Welt genannt wird. Die Anzahl der Bodegas und vor allem die von ihnen eingenommene Fläche innerhalb der Stadtgrenze sind schwer beeindruckend. Wir entscheiden uns spontan für die Bodega Gonzáles Byass, Produzentin des legendären Tío Pepe – liegt günstig gleich neben der Kathedrale und hat obendrein Sonntags geöffnet. 50 € Eintritt für vier Personen inklusive Probe klingt nicht gerade günstig, aber wer weiß, was kommt. Zumindest ist die Führung deutschsprachig, was nicht in allen Betrieben in Jerez selbstverständlich ist.

Jerez de la Frontera - Bodega Gonzáles Byass (Real Bodega de la Concha)

Die gesprächige Dame im temperamentvollen roten Kleid lässt bereits in ihrer Einleitungsansprache keinen Zweifel aufkommen, dass wir uns hier in einer der nobelsten Bodegas der Stadt eingefunden haben und führt uns in einen überdimensionierten Pavillon: 214 mit Wappen verzierte Sherryfässer haben sie hier in vier Reihen in einem dramatischen Halbkreis übereinander gestapelt. Die Real Bodega de la Concha wurde 1862 als Empfangshalle für Königin Isabell II. nach Plänen von keinem Geringeren als Gustav Eiffel errichtet. Heute dient sie wohl eher der Einschüchterung allzu nassforscher Besucher. Sodann werden wir in die bereit stehende Bimmelbahn verfrachtet ... na prima, feinster Touristenblödsinn!

Jerez de la Frontera - Bodega Gonzáles Byass (Catedral del Brandy)

Wir gondeln vorbei am Museo de la viña, einem mit historischen Maschinen und Werkzeugen bestückten Innenhof und dem Entreviñas, einem kleinen Museumswingert. Vor der Catedral (!) del Brandy werden wir abgeladen. Die hauseigene Distillerie gehört zum guten Ton der Produzenten in Jerez, so werden wir aufgeklärt. Da der Sherry nach einer gewissen Lagerzeit mit Brandtwein verspritet werden muss, liegt das auf der Hand. Nebenbei sorgt die hochprozentige Produktion je nach Qualität für nicht unerhebliche Nebeneinnahmen.

Jerez de la Frontera - Bodega Gonzáles Byass (die Sherry-Mäuse von Tío Pepe)

Nächste Station ist die Bodega La Cuadrada Croft: Auf 4400 Quadratmetern stapeln sich hier die amerikanischen Eichenfässer in Dreier- und Viererreihen übereinander. Um Temperatur und Luftfeuchtigkeit konstant zu halten, wird die darunter befindliche Sandschicht mehrmals in der Woche bewässert. Die neuen Jahrgänge landen als aufgespriteter Mosto immer in den obersten Fässern, während der fertige Wein aus der unteren Reihe entnommen wird. Reihe für Reihe füllt man dann die Differenz wieder auf. Das Solera-Verfahren gewährleistet bei üblicherweise unterschiedlichen Jahrgängen eine stets konstante Qualität des Endprodukts. Am Boden erblicke ich das zur Berühmtheit gelangte Glas für die Sherry-Mäuse. Vor vielen Jahren entdeckte man, dass sich die Hausmäuse an undichten Fässern vergnügten. Zum Dank für dieses hilfreiche Verhalten steht seitdem immer ein gefülltes Glas mit Miniaturleiter bereit. Die trinkenden Nager haben es mittlerweile bis auf youtube geschafft.

Nun führt uns La Señora bis in die hintere Ecke jenseits eines schweren Vorhangs: Es folgt der Imagefilm derer von Gonzáles Byass und ihrer sagenhaften Weindynastien inklusive Gründungsmythos von Onkel Pepe und seiner allgegenwärtigen Gitarre. Nun sind wir endlich auf der Spur und fragen uns, wie es nur passieren konnte, dass keiner von uns jemals Notiz von der globalen Marktdominanz des Hauses genommen hat. Aber lassen wir das …

Tio Pepe

Eine weitere erfolgreiche traditionelle Marketingmaßnahme von Tío Pepe findet sich in der Bodega La Constancia: Zahllose Berühmtheiten wie Bobby Charlton, Orson Welles, Steven Spielberg, Lana Turner und selbst der unsägliche General Franco haben sich mit teils lustigen Bildchen auf den Fässern verewigt.

Jerez de la Frontera - Bodega Gonzáles Byass (Antiguo cuarto de muestras)

Im benachbarten seit 1887 unveränderten Antiguo cuarto de muestras stehen unter Zentimeter dickem Staub begraben die ersten Musterflaschen für den Versand nach Großbritannien. Zwischen den einzelnen Gebäuden passieren wir hin und wieder idyllische Calles Emparradas, von alten Reben überrankte Spalierstraßen. Inzwischen sind wir doch froh darüber, dass uns die Kirmesbahn schweißtreibende Fußmärsche auf dem weitläufigen und hügeligen Gelände erspart hat.

Den Höhepunkt der Besichtigung bildet zweifellos die Gran Bodega Tío Pepe mit ihren vier riesigen Betonkuppeln. Unter der nördlichen wurde eine Verkostungsstelle im futuristischen Ambiente eingerichtet. Neben den gängigsten Sherrysorten erhalten wir jeder eine Auswahl von Tapas. Die Ausschankmenge ist begrenzt, allerdings ist das Ambiente auch nicht dazu geschaffen, sich hier volllaufen zu lassen.

Bei aller Pracht und Herrlichkeit hätten wir kurz vor dem Ende der Reise beinahe ein echtes Kleinod in der nächsten Umgebung übersehen:

Arcos de la Frontera

Arcos de la Frontera

Das an einer steilen Abbruchkante am Río Guadalete und seinem Stausee gelegene Städtchen ist das Paradebeispiel eines Pueblo Blancos. Ein schmaler Saum weiß getünchter Hauser, dominiert von einer Festung und Kirchen aus ockerfarbenem Naturstein, krönt den Felsen. Das Auf und Ab des Hügels und die weithin sichtbare Silhouette unterstreichen die exponierte Lage Arcos'. Wie in einem Labyrinth sind die von zahllosen Stützbögen überspannten engen Gassen miteinander verwoben. Keine davon verläuft gerade, dem natürlichen Geländeverlauf auf der schmalen Felsnadel zwischen zwei engen Schlaufen des Río Guadalete passen sie sich an.

Arcos de la Frontera - Blickrichtung Westen vom Plaza del Cabildo auf den Río Guadalete

Von der Plaza del Cabildo, der Aussichtplattform in der Nähe des Castillo und der Basílica de Santa María de la Asunción mit ihrem wuchtigen Turm, ergeben sich spektakuläre Ausblicke hinunter ins Flusstal und weit ins Umland mit seinen endlosen Feldern und Hügelketten. Trotz aller Raumnot wurde an exponierter Stelle zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert mit der Iglesia de San Pedro ein zweites stattliches Gotteshaus errichtet. Die Jesuiten begannen im 18. Jahrhundert zwischen den anderen beiden Kirchen eine weitere, welche jedoch nie fertig gestellt wurde und heute einen kleinen Markt beherbergt. Stellvertretend für die sonstigen Prunkbauten der Stadt mit ihren reichlich verzierten steinernen Wappen, Giebeln und Säulen an den Eingangsportalen steht an dieser Stelle der von einer herrlichen Renaissanceloggia abgeschlossene Palacio del Mayorazgo in der Nähe der Iglesia de San Pedro.

Nach einer solchen Fülle kultureller Höhepunkte sehnt sich das Gemüt nach einer Verschnaufpause, umgeben von den Elementen der Natur. Nur eine Viertelstunde südöstlich von Conil finden wir sie in

Barbate.

Barbate - Torre del Tajo (16. Jh.)

Der wenig spektakuläre frühere Fischerort ist der Namensgeber für den weiter nördlich gelegenen Küstenpinienwald Parque Natural La Breña y Marismas del Barbate, einem aus Aufforstung hervor gegangenen Naturschutzgebiet. Neben dem bereits erwähnten Cabo de Trafalgar erhebt sich oberhalb der Steilküste mit dem Torre del Tajo eine weitere bedeutende Landmarke im Umkreis von Barbate. Der etwa dreißigminütige Fußmarsch dorthin ist zwar staubig, aber ohne nennenswerte Steigungen und zudem meist schattig, wenn wir nicht gerade eine der breiten Feuerschneisen passieren. Der Wachturm aus dem 16. Jahrhundert hatte eine ähnliche Funktion wie jener in Conil und diente wohl hauptsächlich der frühzeitigen Entdeckung drohender Piratenangriffe und den Fischern zur Beobachtung der begehrten Thunfischschwärme. Unser Blick schweift über die tief unten liegende Küste von Barbate und den weiten Atlantik.