Im Banne der Piazza

Wochenende. Die senesische Fieberkurve steigt. Nervosität, wie vor einem großen Fußballspiel, liegt in der Luft. Bunte Fahnen flattern im heißen Wind dieser ungewöhnlich glühenden Junitage 2003, in denen das Thermometer Tag für Tag knapp an der 40°-Marke kratzt. Benommen von der sengenden Hitze schleichen wir durch die Gassen und retten uns von einem Häuserschatten zum nächsten. Nur noch gut eine Woche bis zum 2. Juli, dem Termin des ersten Palio dieses Jahres. Im Moment ist für mich kaum vorstellbar, wie man unter solchen Bedingungen völlig überfüllte Straßen ertragen soll geschweige denn ein Pferderennen stattfinden kann. Der Straßenzug nördlich der Piazza del Campo ist in den rot-weiß-schwarzen Farben der Contrada Priora della Civetta geschmückt – in der Ecke oben links prangt die Eule, das Symbol dieses ‚Stadtteils’. Vielleicht sollte man lieber von Quartieren sprechen, denn die meisten der heute noch existierenden 17 traditionellen Contraden entsprechen schon allein hinsichtlich ihrer sehr überschaubaren Größe ganz und gar nicht unserer Vorstellung von einem Viertel.

Aber genau deshalb zieht Siena eine stetig wachsende Anhängerschaft in seinen Bann: Diese großartige Freiluftkulisse vereint Vorzüge auf engstem Raum, wie man sie in anderen Breiten vergeblich sucht: Eine beinahe lückenlose mittelalterliche Stadtsilhouette vermittelt urbane Geborgenheit. Die störenden Einflüsse modernen Mobilitätswahns sind weitgehend aus dem mauerbewährten Stadtgebiet verbannt. Nur der auf das Notwendigste beschränkte einheimische Verkehr hat Zufahrtsrechte. Darüber wachen gnadenlose Schranken und Videokameras vor den Portalen – keine Chance für auswärtige Besucher, motorisiert in das Gassengewirr vorzudringen. Ein Unterfangen, welches angesichts der Steilheit und Enge sehr schnell in einem Desaster enden kann. Das haben wir auch eingesehen und lenkten unseren fahrbaren Untersatz von der stark befahrenen Umgehungsroute Strada di Pescaia brav in das Parkhaus Santa Caterina-Fontebranda, einer der gut erreichbaren Tiefgaragen am Stadtrand in der Nähe einer mächtigen Kirche.

In Folge der topographischen Beschaffenheit des Untergrundes – die Stadtteile wurden auf drei Hügeln erbaut und wuchsen im Laufe der Jahrhunderte zusammen – ist Siena geradezu für Fußgänger prädestiniert. Links oder rechts einer Hauptachse führen häufig enge steile Treppengassen durch tiefe Häuserschluchten und geben den Blick frei auf monumentale Bauwerke wie den Duomo Santa Maria Assunta oder die wehrhaften, von Zypressen gesäumten Backsteinmauern von San Domenico.

Und doch ist Siena weitläufig genug, um einer US-amerikanischen Touristeninvasion wie im nahe gelegenen winzig kleinen San Gimignano zu entgehen. Vielleicht liegt es auch an der öffentlich zur Schau getragenen Ablehnung der Toskaner und insbesondere der Senesen gegenüber der aggressiven Außenpolitik der Bush-Administration dieser Tage: Überall ‚Pace’-Fahnen an den Häusern und in den Studentenkneipen eindeutig antiamerikanische Plakate. Nein, wahrscheinlich eher nicht – die Amerikaner sind natürlich da, wie immer unüberhörbar penetrant in ihrer Ausdrucksweise und man begegnet ihnen freundlich, wie anderen Gästen auch. Sie fallen aber nicht weiter auf, denn Sienas Bewohner leben hier nicht wegen der Touristen.

Palio

Sie feiern zunächst einmal hauptsächlich sich selbst, und zwar gleich zweimal im Jahr, in einem der skurrilsten Pferderennen der Welt. Jeweils am 2. Juli und 16. August finden die Feierlichkeiten rund um dieses größte Fest der Stadt ihren Höhepunkt in einer halsbrecherischen Hatz rund um die Piazza del Campo, den unbestreitbaren Mittel- und Höhepunkt dieses mittelalterlichen Freilichtmuseums. Die drei Runden absolvieren die Fatini, eingekaufte Jockeys von überall her, nur nicht aus Siena, in gut eineinhalb Minuten ohne Sattel und riskieren dabei für ihre Contrada Kopf und Kragen. Nicht selten kommen die Tiere alleine ins Ziel, was aber ausdrücklich als regelkonform gilt. Nur zum Zweck des Rennens verwandeln sie diesen wunderschönen Platz mit immensem Aufwand in eine Freiluftarena. Eine 20 cm hohe Schüttung aus Sand und Tuff, sorgfältig festgewalzt, gibt den Pferden ein Mindestmaß Halt und den Reitern ein wenig Polster beim oft unvermeidbaren Sturz. Kunstvoll gedrechselte Tribünenaufbauten fassen die zahllosen Ehrengäste und zahlenden Zuschauer, während sich im kostenlosen Innenraum des Rundes die stehende Masse drängelt.

Aber eigentlich geht es um die mehrtägigen Rituale vor dem kurzen Kräftemessen. Da werden die zuvor von einer Kommission ausgewählten Pferde den teilnehmenden Contraden zugelost, welche diese dann in der eigenen Kirche unter lautstarken Gesängen segnen und anschließend Tag und Nacht bewachen lassen. Da werden an langen Tafeln am Abend zuvor in den Gassen aller Stadtviertel Festessen abgehalten. Da zieht der ‚Corteo Storico’ in einer stundenlangen Prozession am Tag des Wettkampfes u.a. mit Abordnungen aus jeder Contrada in aufwendigen historischen Kostümen und genau festgelegter Zusammensetzung aus Fahnenschwenkern, Trommlern, Komparsen, Pagen, militärischen und zivilen Würdenträgern zum zentralen Campo. Da wird der Beginn des eigentlichen Rennens durch zahllose Fehlstarts hinausgezögert, bis die Spannung unerträglich geworden ist und sich mit einem Mal explosiv entlädt. Und anschließend feiern die Sieger tagelang in den Straßen.

Natürlich haben wir es trotz der räumlichen und zeitlichen Nähe bei unserem erneuten Besuch im Jahr 2006 zum 16. August nicht geschafft, uns Zugang zum Palio zu verschaffen. Das wäre vermessen, denn für die Plätze gibt es mehrjährige Wartelisten. Zum Trost verfolgen wir das Rennen bequem im Fernsehen in unserem Landhaus in Montalcinello am Rande der Maremma. Nichts desto trotz läuft uns einige Tage später bei einem Besuch auf der Piazza stolz das Siegerpferd ‚Caro Amico’ mitsamt seinem Jockey ‚Salasso’ über den Weg, während drum herum Arbeiter mit dem Abbau der Tribünen und der Reinigung des Pflasters beschäftigt sind. Natürlich ist das kein Zufall, denn auch der Aufmarsch der musizierenden und singenden Bewohner der Contrada della Selva und der Fahnen schwenkenden Alfieri aus einer der Seitengassen gehört zum Ritual der ununterbrochenen Auskostung des Triumphes. Dass jener möglicherweise dem Losglück zu verdanken oder gar ein Produkt geheimer und gar nicht so seltener Absprachen zwischen einzelnen nicht ganz so verfeindeten Contraden sein könnte, spielt bei diesen Jahrhunderte alten und längst zum Selbstzweck gewordenen Zeremonien überhaupt keine Rolle.

Einkaufsstraßen

Entlang der Haupteinkaufsstraßen Sienas finden sich zahlreiche noble Boutiquen und berühmte, traditionelle Geschäfte. Exemplarisch sei hier nur das ‚Nannini Conga d’Oro’ in der Via Banchi di Sopra 24 genannt, die älteste Pasticceria der Stadt mit Kaffee aus eigener Rösterei, erlesenen Backwaren und Gelati – leider aufgrund des hohen Bekanntheitsgrades des Namens (Röhre Gianna war nicht ganz unbeteiligt) und infolge der unbehelligt zugänglichen Toiletten oft hoffnungslos überfüllt. Diese Straße setzt sich weiter nördlich in der Via dei Montanini fort. Noch zu erwähnen sei die Via di Città, welche sich parallel zur Piazza del Campo windet, um dann zum Domhügel hin anzusteigen. Dort finden sich auch die besten Adressen für anspruchsvollere Souvenirs: Alte Stiche und Malereien, architektonische Zeichnungen, auch gerne handwerklich gerahmt und die Wappen sämtlicher Contraden auf großformatigen bunten Fahnen gedruckt – ein Highlight für jeden Ritterkindergeburtstag!

Der fehlende Autoverkehr, die phantastischen Häuserkulissen und die zahllosen Geschäfte laden dazu ein, sich durch die Gassen treiben zu lassen und die Zeit zu vergessen. Nicht zuletzt die sich immer wieder überraschend öffnenden

Innenhöfe

bieten als Ruhezonen Gelegenheit zur Erholung vor dem lebhaften Treiben auf den Gassen. Gerne verweilt man an diesen häufig von kunstvollen Arkaden umgebenen und mit malerischen Brunnen in der Mitte gekrönten Orten der Stille und Muse. Der Palazzo Chigi-Saracini aus dem 12. Jahrhundert in der Via di Città, heute Heimstätte der Accademia Musicale Chigiana, sei hier nur exemplarisch genannt. Um das Eingangsportal herum blicken berühmte Musiker in Form von marmornen Büsten aus ihren Nischen in den Wänden auf uns herab.

Mr. Pizza

In eine der wohl authentischsten Stehpizzerien Sienas verschlägt es uns, als mal wieder der jüngste Mühlheimer von urplötzlich über ihn hereinbrechenden Heißhungerattacken malträtiert wird. ‚Mr. Pizza’ steht da reißerisch über dem Eingang in der Via delle Terme 94 – zugegeben eine eher an auf Homeservice spezialisierte Imbissketten erinnernde Bezeichnung. Mangels brauchbarer Alternative betreten wir mit abgrundtiefer Skepsis den Laden und sind dann aber in Bruchteilen von Sekunden von der Richtigkeit unserer Entscheidung überzeugt: Eine nackte spartanische Theke mit einer Auswahl gerade angeschnittener Wagenradpizze dahinter. Davor und an einem Brett an der Wand entlang hölzerne Barhocker, eine Eistruhe und der in italienischen Trattorien stets präsente Sichtkühlschrank. Alles ist wild plakatiert und im Hintergrund läuft angenehm stimmungsvoller Südstaatenblues. Der dreitagebärtige Bäcker ist mit dem Aufschnitt eines gerade fertig gewordenen Monstrums beschäftigt. Eine gewaltige Teigknetmaschine mit frischem Inhalt an der Wand gegenüber lässt auf den reißenden Absatz seines Produkts schließen. Mit durchschnittlich 2 € je Ecke, welche immerhin fast die Dimension eines handelsüblichen Tiefkühlteiglings erreicht, liegt er auch durchaus auf dem Niveau knapp bemessener Studentenbudgets, von denen es hier reichlich gibt.

Piazza del Campo

Jeder, der diese Stadt besucht, landet früher oder später auf diesem zentralen muschelförmigen Grund und ist zunächst sprachlos angesichts der unbeschreiblichen Pracht des Rathauses, seinem irrwitzigen Turm und der perfekten Harmonie der den Platz umgebenden Häuserzeilen. Gleich einem Amphitheater fällt das in neun ‚Kuchenstücke’ geteilte und mit rotem Backstein gepflasterte Gelände zum Palazzo Pubblico hin ab und verleitet insbesondere in den Abendstunden, wenn die sengende Hitze gewichen ist und das westliche Pflaster beschattet wird, zahlreiche Besucher zum Verweilen auf dem blanken, immer noch angenehm warmen Boden. Am oberen mittleren Ende ist die Fonte Gaia, der von wasserspeienden Wölfinnen gezierte ‚Brunnen der Freude’, ein Rennaissancewerk von Jacopo della Quercia aus dem Jahre 1412, in den Platz eingelassen. All diese Eindrücke sind noch fest in unseren Erinnerungen an den ersten Besuch 1996 verankert, so dass es zumindest mich nach neuen Perspektiven drängt. Eine davon findet sich auf der Spitze des

Torre del Mangia,

102 Meter über der Erde, einem für mittelalterliche Verhältnisse atemberaubend hohen Glockenturm (1325-44). Der Zugang zu diesem architektonischen Wunderwerk ist zu festgelegten Uhrzeiten immer nur einer streng limitierten Zahl von Besuchern erlaubt, so dass es sich empfiehlt, frühzeitig Tickets zu besorgen. Als es dann endlich so weit ist, kämpfen wir uns (zwei Erwachsene, zwei Kleinkinder) durch mehrere verschachtelte Treppenaufgänge des Rathauses, vorbei an den entgegenströmenden Touristen der vorherigen Schicht bis auf die erste Aussichtsplattform auf dem Dach des Palazzo Pubblico vor – hier beginnt der eigentliche Aufstieg durch den Turmkern. Nach nicht enden wollenden Treppenstufen ist die zweite Plattform auf der weißen Travertinkanzel des Campanile erreicht und wir blicken ungläubig in die tiefliegende Stadt: Zu unseren Füßen die Piazza, deren Muschelgestalt sich erst von hier oben erschließt – es zieht uns regelrecht die Schuhe aus. Links davon, aus dem karminroten Häusermeer majestätisch hervorragend, das Hauptschiff von Santa Maria Assunta – ein Augenschmaus in schwarzem und weißem Marmor. Rechts etwas weiter weg am Rand der mittelalterlichen Stadt erhebt sich der wuchtige Backsteinbau von San Domenico. Aber wir sind noch längst nicht oben ... Über eine schwindelerregende Holztreppe geht es jetzt durch den Tabernakel auf die eigentliche Turmspitze mit ihrer erheblich kleineren Plattform und dem metallenen Glockenträger darauf. Wem es jetzt immer noch nicht schlecht ist, der kann auch noch die letzten steilen Leiterstufen bis direkt unter die Glocke zurücklegen. Leise Zweifel, wie dieses Konstrukt ohne nennenswerte bauliche Veränderungen nach Hunderten von Jahren immer noch solchen Massen trampelnder Füße stand halten kann, machen sich in meinem Unterbewußtsein breit.

Duomo

Als wir vor der Prachtfassade des gewaltigen Domes stehen, stockt uns erneut der Atem: Die Komposition aus marmornen Galerien, Skulpturen, Portalen und vergoldeten Mosaiken, eines der bedeutendsten Werke der italienischen Gotik, erschlägt jeden Betrachter. Vor dem Hintergrund der Bedingungen, welche zum Zeitpunkt der Entstehung im frühen Mittelalter (ab 1226) herrschten, ein geradezu monumentales Bauwerk. Berücksichtigt man noch die Dimensionen des nur bis zu den Außenmauern vollendeten, bereits mit schwarzem und weißem Marmor verkleideten Hauptschiffs des neuen Doms, dann erscheint nur noch eine Vokabel angemessen: Größenwahn. Die geplante Erweiterung hätte die Kathedrale zu einer der größten der damaligen Zeit gemacht, musste aber 1357 in Folge der Pest und anderer Probleme statischer und finanzieller Natur eingestellt werden.

Auch das Innere der Kathedrale ist unbedingt einen Besuch wert. Der Fußboden ist durchgehend in farbigem Marmor, größtenteils wertvolle Intarsienarbeiten, gestaltet. Über der Vierung erhebt sich eine unregelmäßige sechseckige Kuppel, deren Gewölbe mit einer aufgemalten perspektivisch verzerrten Kassettendecke zur Öffnung in der Mitte hin die Illusion eines weitaus höheren Raumes vermittelt.

Das Battistero San Giovanni (1316-25) schließt sich unterhalb des Chores an und ist über eine Schautreppe von der Via dei Pellegrini aus zu erreichen. Seine Fassade wirkt wie aus Zuckerguss und ist ebenfalls ein Wunderwerk aus weißem, schwarzem und rotadrigem Marmor, welcher zu Ornamentbändern, Giebeln, Skulpturen, Scheingalerien und -rosetten geformt wurde.

Wir entschließen uns zu einem Besuch des Museo dell’Opera. Hier sind nicht nur berühmte Gemälde, u.a. die Madonna von Duccio di Buoninsegna (1308-11), welche extra für die Ausstattung des Domes gefertigt wurden, zu sehen, sondern man hat die Gelegenheit, in schwindliger Höhe über die unvollendete neue Fassade entlang zu spazieren und blickt auf die roten Dächer von Siena und das großartige Panorama der Piazza del Campo mit dem Torre del Mangia.

Wohl kaum eine andere Stadt der Toskana übt eine ähnliche faszinierende Anziehungskraft auf ihre Besucher aus. Nach dem dritten Mal stellt sich eine gewisse Vertrautheit ein, die Bilder warmer, erdiger Farben brennen sich im Gedächtnis ein und man wird eins mit diesem Meisterstück urbanen Städtebaus. Gleichzeitig ist die Fülle an kulturellen Schätzen so immens, dass es immer wieder neue Winkel und Details zu entdecken gibt.