Einblick ins Erdinnere

Manchmal dauert´s halt etwas länger...
Bei mir 11 Jahre seit meiner ersten Begegnung mit dem Mythos Santorin – oder nennen wir sie lieber Thera, so wie in der Antike. Zweimal bin ich von Kreta in fünfstündigen Schiffspassagen herübergefahren, um jeweils nur eine verhältnismäßig kurze aber erfüllte Zeit auf dem geheimnisumwitterten und zerrissenen Eiland zu verbringen. Es ist meines Erachtens die würdigste Form, sich diesem Naturwunder zu nähern. Erst im letzten Jahr wurden erstmals zwei Wochen daraus – ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich den Direktflug gewählt habe. Wer die Zeit hat, sollte aber unbedingt den Wasserweg ausprobieren. Aufgrund meiner früheren Besuche wusste ich genau, wie meine Unterkunft aussehen sollte: Der steile Kraterrand mit Blick in die riesige Caldera musste es sein, am besten in einer der traditionellen Höhlenwohnungen, welche bereits seit Jahrhunderten in den weichen Bimsstein hineingegraben wurden. Nun sind diese klassischen Behausungen nicht ganz billig, weil in ihrer Anzahl begrenzt. Und je weiter man sich von der Hauptstadt nach Richtung Norden bewegt, desto kostspieliger wird es. Der Höhepunkt der Preisspirale ist im malerischen Oia erreicht, wo in der Hauptsaison teilweise über 3000 DM pro Person für 14 Tage verlangt werden. Imerovigli, unser Ziel, liegt ungefähr auf halbem Weg dorthin, bietet nicht weniger spektakuläre Ausblicke und ist noch einigermaßen erschwinglich. Die wirklich preisgünstigen Unterkünfte findet man in größeren Ferienorten wie Kamari auf der anderen Seite der Hauptinsel, wo auch die Lavastrände liegen. Aber Hand auf´s Herz: Nach Santorin reist man nicht, nur um zu baden, sondern man will in erster Linie die atemberaubenden Aussichten auf die grandiosen Überreste einer bronzezeitlichen Megakatastrophe genießen – und das zu allen Tageszeiten.

Aus der Vogelperspektive betrachtet gruppieren sich mehrere Inseln (Thira, Thirassia, Aspronisi und einige unbewohnte Felsen), die Überreste des Kraterrands von Strongyle, in einem zu fast drei Vierteln geschlossenen Kreis um die Lavaanhäufungen Palea Kameni und Nea Kameni in der Mitte. Die ursprüngliche fast kreisrunde Form der alten Insel Thera lässt sich hierbei sehr gut erahnen. Nach neuesten Erkenntnissen fand der alles vernichtende Ausbruch erst um 1350 v. Chr., also rund 100 Jahre später als bislang angenommen statt. Die Wucht dieser Explosion muss unvorstellbar gewesen sein: Dicke Ascheschichten ließen sich noch im über 150 km entfernten Kreta nachweisen – auf dem heutigen Santorin erreichen die Ablagerungen Stärken von bis zu über 30 Metern, so hoch wie die Flutwellen, die die Küstenbereiche auf Kreta verwüsteten. Im Anschluss an die Naturkatastrophe versanken weite Teile der Urinsel im Meer. Die Auswirkungen auf die Atmosphäre und somit das Weltklima stellen jüngere Ausbrüche wie die des Mount St. Helens völlig in den Schatten. Zur damaligen Zeit war Thera von Minoern bewohnt. Per Zufall entdeckte der griechische Archäologe Spiridon Marinatos 1967 bei Bauern im Südosten Fundstücke aus der Bronzezeit. Systematische Grabungen brachten seitdem eine blühende, fast vollständig erhaltene Stadt zu Tage. Teilweise bis zu dreistöckige Gebäude enthielten farbenfrohe Fresken und zahlreiche Gefäße. Die Originale hat man aus Angst vor weiteren Erdbeben – das letzte hatte 1957 verheerende Auswirkungen – nach Athen geschafft. Möbelstücke aus Holz überstanden zwar nicht den glühenden Ascheregen, jedoch hinterließen sie Hohlräume in der Bimssteinschicht, die man dann später mit Gips ausgegossen hat. Nicht ohne Grund wird Akrotiri gerne als das griechische Pompeij, aber zumindest als derzeit bedeutendste Ausgrabungsstätte in Europa bezeichnet. Bis heute sind nur Teile der für damalige Verhältnisse hochzivilisierten Stadt freigelegt. Das gesamte Areal ist aufgrund der andauernden Grabungen und des erosionsgefährdeten Bodens überdacht. Für Archäologieanhänger hat Akrotiri fast schon einen 'Mekkastatus'. Mich jedenfalls hat dieser Ort mit seiner nach wie vor geheimnisvollen Vergangenheit von Anfang an fasziniert: Es wurden keine menschlichen Überreste gefunden, die Bewohner scheinen also ihre Heimat nicht fluchtartig verlassen zu haben. Was wurde anfangs nicht alles hineininterpretiert: Eine Kolonie des minoischen Kreta, Einfluss bis Ägypten, die wahren Überreste von Atlantis usw.

Kapelle unterhalb des antiken Thera

Bei Kamari sind die Grundmauern des antiken Thera (Amphitheater, Nekropole, Wohn- und Verwaltungsgebäude) auf einer steilen Bergkuppe zu bestaunen. Allein der Aufstieg lohnt sich aufgrund der fabelhaften Aussicht über große Teile von Santorin, wenn man nicht gerade vom Meltemi weggeblasen wird. Das eigentliche archäologische Gelände ist umzäunt und wird von rigorosen Wärtern mit Trillerpfeifen bewacht: Wer zu spät kommt, hat Pech gehabt. Unbedingt vorher die aktuellen Öffnungszeiten erfragen, denn die Reiseführer sind in der Hinsicht unzuverlässig!

Kapelle unterhalb des antiken Thera

Galerie in Oia Oia
Galerie in Oia
Oia
Oia Haus in Oia
Oia
Haus in Oia

Auch wenn ich in Akrotiri den kulturellen Höhepunkt Santorins sehe – die Inseln haben natürlich noch mehr zubieten: Neben einer lebhaften Hauptstadt, die fast täglich von Kreuzfahrttouristen überschwemmt wird, üben die wie an einer Perlenschnur am Kraterrand aufgereihten Orte eine beinahe magische Anziehungskraft aus. Im gleißenden ägäischen Licht wandert man stundenlang auf steinernen Wegen an der Caldera entlang: Von Thira über Firostefani, Imerovigli bis Oia, dem Höhepunkt der Kykladenarchitektur. Vor allem in der Abendsonne kommen die unendlichen kubischen Formen dieser Bauweise in ihren kräftigen gelben, blauen und weißen Kontrasten zum Ausdruck. Pittoreske Höhlenwohnungen, an steilen, nur über unendliche Stufen begehbaren Hängen gelegen, so dass sie nur über das Dach zugänglich sind und immer wieder Kirchen und Kapellen mit blauen Kuppeln. Autos oder Motorräder, diese Stimmungstöter in den meisten Mittelmeerländern, haben hier keine Chance. Oia hat sich im Laufe der Jahre zu einer Künstlerkolonie entwickelt: Galerien, esoterische Gemischtwarenläden, phantasievolle Cafés und Bistros, Skulpturenhändler und Juweliere. Aber Achtung: Fast ausnahmslos muss mit einem Schönheitsaufschlag im Preis gerechnet werden!

Spuren vom großen Erdbeben Kirche in Oia
Spuren vom großen Erdbeben
Kirche in Oia

Das gastronomische Angebot ist für ein stark frequentiertes Urlaubsziel wie dieses überraschend ursprünglich und gut. Die griechische Bauernküche glänzt durch ihre Einfachheit, die Frische und hohe Qualität der Zutaten. Zu empfehlen sind alle Arten von Vorspeisen wie frittiertes Gemüse, Puffer, Schafskäsebällchen, Knoblauchkartoffelpüree, Moussaka, in Olivenöl frittierte Kartoffelecken, Gigantes (Riesenbohnen in Tomatensauce), Dolmades (gefüllte Weinblätter), Spinat- und Schafskäsepasteten, Auberginensalat u.v.m. Der Wein wächst auf vulkanischem Boden und kommt völlig ohne künstliche Bewässerung aus. Die Rotweine sind vollmundig und schwer, erreichen einen hohen Alkoholgehalt.

Taverne in Oia

Taverne in Oia

Santorin hat ein dichtes und preisgünstiges Busnetz mit relativ kurzen Taktzeiten. Ein Leihwagen ist unnötig rausgeworfenes Geld, denn man kommt wirklich überall hin. Die Busse nach Oia können gelegentlich in den Zeiten vor dem Sonnenuntergang ("Ooh, aah!") überfüllt sein.

Der einzige negative Aspekt, über den sich jeder Besucher im Klaren sein sollte, betrifft wie überall in Griechenland die Abfallentsorgung. Auf Santorin hat man dazu einen tiefen Einschnitt in der Kraterwand gleich hinter der alten Leprastation gewählt (irgendwie passend). Von den einfahrenden Kreuzfahrtschiffen unbemerkt kippen Müllfahrzeuge alles, was nicht mehr benötigt wird, den Abhang hinunter. Die Müllhalde hat inzwischen sogar das Meer erreicht. Ein vorausschauendes Abfallkonzept gibt es nicht. Die wirksamste Methode, nämlich Abfallvermeidung, wird noch nicht einmal ansatzweise praktiziert. Jeder Tourist, auch wenn er mit den besten Vorsätzen anreist, ist dazu verdammt, Plastikflaschen und Dosen zu kaufen, wenn er nicht verdursten will.

Santorin ist für mich trotz aller unangenehmen Nebenerscheinungen des Tourismus nach wie vor die einzigartigste und spektakulärste griechische Insel. Solange man einen großen Bogen um die Hauptsaison machen kann (allein schon wegen der Hitze), erlebt man dort wirklich eine erholsame und unvergessliche Zeit.