Unseren direkten Nachbarn im Nordwesten hatte ich in der Vergangenheit immer ignoriert – keine Ahnung warum. Einen triftigen Grund gab es nicht, außer dass die Niederländer uns kulturell vermutlich näherstehen, als sie zugeben würden und ich mich daher nicht sonderlich mit diesem Ziel beschäftigt habe. Auf der Suche nach einem per Landweg erreichbaren Urlaubsziel fiel das flache Gefilde an der Nordsee dann endlich doch einmal in die engere Auswahl.
Amsterdam hat ein Parkplatzproblem oder eigentlich wiederum nicht, denn die Stadtoberen haben es gelöst, in dem innerhalb der City horrende Gebühren fällig werden und man als Auswärtiger besser daran tut, sein Gefährt dauerhaft in einem Parkhaus am Stadtrand zu deponieren. Auch diese Plätze sind heiß begehrt und so verbringe ich den Rest des Nachmittags damit, im Chat mit der Appartementrezeption die Zufahrtsmodalitäten zu erkunden.
Unser Ziel liegt auf der Cruquiuseiland, einer im 19. Jahrhundert künstlich angelegten Insel in den östlichen Docklands von Amsterdam und somit immer noch hervorragend an den öffentlichen Nahverkehr angebunden. Von der einstigen Nutzung als Viehmarkt mit Schlachthof und Lagergebäuden ist nicht mehr viel zu sehen. Heute dominieren Wohngebäude und moderne Appartementkomplexe. Nord- und südwestlich halten jeweils Straßenbahnen, die uns direkt in die Innenstadt befördern. Fahrkartenautomaten suchen wir vergebens. Dieser Service ist hier längst voll digitalisiert, funktioniert bargeldlos über eine App und man checkt beim Betreten der Züge ein. Dafür gibt es in jeder Linie eine Art Aufsichtsperson, welche insbesondere Ortsfremde weg von den Türen in das Wageninnere dirigiert und auch sonst für Sicherheit und Ordnung sorgt. Früher war das bei uns der Schaffner, der dann auch die Fahrkarten verkaufen musste – vorbildlich!
Innerhalb von 20 Minuten sind wir im Getümmel am Dam, dem großen Platz vor dem Königspalast, der ziemlich genau das von den Grachtenringen umgebene Zentrum bildet. Dieses Netz aus Wasserstraßen ist für einen Außenstehenden im höchsten Maße verwirrend und findet scheinbar kein Ende. Aufgrund der rasant wachsenden Bevölkerung im Zuge des goldenen Zeitalters der Niederlande wurde im frühen 17. Jahrhundert eine Stadterweiterung geplant, welche die Urbarmachung von Sumpfgebieten zum Ziel hatte. Gleichzeitig siedelten sich Kaufleute mit Lagerhäusern auf den teuren Grundstücken entlang der neu entstandenen Kanäle an und nutzten diese zum Warentransport. Die Bebauung hat bis heute überdauert und beherbergt mittlerweile neben unbezahlbaren Wohnungen eine Vielfalt von Geschäften, Bistros und die berühmten Coffee-Shops.
Hinter dem Königspalast glänzt die monumentale Fassade des ehemaligen Hauptpostamts aus den Jahren 1895–99. Die eigenwillige Mischung aus Neogotik und -renaissance macht es zu einem der wichtigsten niederländischen Kulturdenkmäler. Anfang der 90er Jahre wurde daher nach der Aufgabe des Standorts der Umbau zum Einkaufszentrum ‚Magna Plaza‘ beschlossen. Als wir das Innere betreten, ist nicht allzu viel los. Es gibt kaum geöffnete Läden und viele Bereiche sind durch Bauzäune beeinträchtigt. Im Innenhof setzt sich jedoch die bereits außen sichtbare Pracht des Baus fort: Über drei Etagen erheben sich Säulengänge im maurischen Stil.
Direkt im Nachbargebäude betreten wir die ‚Blauwe Parade‘, eines der eindrucksvollsten Lokale in Amsterdam. Was für eine Einrichtung! Allein dafür lohnt sich der Besuch. Rundum aufwendige Holztäfelungen und darüber ein monumentales Wandgemälde aus Delfter Kacheln mit prozessierenden Kindern. Dazu passend schwere Massivholzmöbel. An deren Stelle und dem heutigen Tresen standen Ende des 19. Jahrhunderts einst in Doppelreihe die Weinfässer einer Bodega. Wir sind hier heute zwar nur zum Bier, aber essen könnte man dazu lokal und bodenständig. In unmittelbarer Nachbarschaft hat die Brauerei Heineken ihren Ursprung. Für die zentrale Lage direkt am Palast und im Vergleich mit anderen Bars im Amsterdamer Zentrum sind die Preise angemessen.
Etwa 200 Meter auf dem Damrak in Richtung Nordosten zweigt links die Beurspassage ab. Dieses mit Kronleuchtern, phantasievollen Mosaiken und Deckenmalereien dekorierte Jugendstilkleinod hat man in den Abendstunden, wenn die Shopping-Lawine abebbt, fast für sich alleine.
Im weiteren Verlauf zum Hauptbahnhof eröffnet sich rechts eines der bekanntesten Motive Amsterdams: Die pittoreske Häuserzeile am ältesten Teil des Hafens. Von hier aus erfasst man bereits das repräsentative Empfangsgebäude von Amsterdam Centraal in seiner vollen Breite. Rote Ziegel und heller Naturstein zieren die Neorenaissance-Fassade mit zwei Uhrtürmen und dem Koningspaviljoen.
Auch im Inneren des Baus haben sich glanzvolle Elemente aus der Entstehungszeit im 19. Jahrhundert erhalten. Das ‚Grand Café Restaurant 1e klas‘ verbreitet mit seiner dunklen Holzeinrichtung, den Originaltapeten und -wandmalereien und gelangweilten Kellnern bis heute den Geist der Jahrhundertwende. Auch der in vielen Cafés dieser Epoche obligatorische Papagei thront hier noch auf der überbreiten, von kostbaren Vasen dekorierten Theke und kaut Erdnüsse. Ebenfalls im besten Zustand befinden sich die Wartesäle der ersten und zweiten Klasse. Aus erhöhter Position überblickt man von einem Balkon die zentrale Eingangshalle des Bahnhofs, die Cuypershal.
Direkt am Wasser gegenüber der Station liegt das ‚Noord-Zuid-Hollandsch (Smits) Koffiehuis‘, dessen Einzelteile während des Baus der Metro acht Jahre lang eingelagert waren. Das gegenüberliegende Ufer dieses alten Hafens, der Fortsetzung des Damrak, dominiert die insbesondere in den Abendstunden malerisch erleuchtete Basiliek van de Heilige Nicolaas.
Wir machen einen Bogen zurück in das alte Viertel östlich vom Damrak. Hier im berüchtigten Rotlichtbezirk ‚De Wallen‘ steht man auch mal unvermittelt vor Schaufenstern hinter denen lebende Damen auf Stühlen posieren … Mittendrin zwischen roten Vorhängen, chinesischen Restaurants, Porno-Shows und Cannabisschwaden gibt es aber auch einige sehenswerte mittelalterliche Hinterlassenschaften: De Oude Kerk aus dem 13. Jahrhundert, das älteste bekannte Gebäude der Stadt und zwei Grachten weiter die historische Waag. Das einst anarchische Treiben in diesem Teil Amsterdams gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Der Konsum von Alkohol und Cannabis außerhalb von Lokalen und speziellen lizensierten Einrichtungen sowie das Fotografieren der Prostituierten ist generell verboten und wird ebenso verfolgt wie das öffentliche Urinieren und Lagern in Grünanlagen. Das Sicherheitsempfinden ist daher deutlich höher als in den meisten deutschen Großstädten.
Noch weiter östlich rund um das Oosterdok wird es dann nach dem Passieren der Jugendstilpracht von Batavia Gebouw und Scheepvaarthuis futuristisch. Die Openbare Bibliotheek Amsterdam und das NEMO Science Museum sind die wohl hervorstechendsten Exemplare aus einer ganzen Reihe moderner Komplexe. Die Bibliothek ist frei zugänglich und wir fahren über Rolltreppen bis in die oberste Etage. Dort lockt ein Café mit Selbstbedienung auf die Dachterrasse mit kostenlosem Panoramablick aufs Oosterdok und die Amsterdamer Skyline.
Über die van der Veldebrug gelangen wir zum NEMO, welches einem untergehenden Schiff nachempfunden ist. Der Eingang führt auf das Dach, das schräge Vordeck und zugleich öffentlicher Platz. Weiter kommen wir heute nicht, denn das Museum schließt um 17.30 Uhr und ein Schwung von Besuchern kommt uns schon entgegen. Aus der erhöhten Position beeindruckt die vor dem Scheepvaartmuseum verankerte ‚Amsterdam‘, ein originalgetreuer Nachbau eines 1749 vor Hastings gesunkenen Schiffes der ‚Vereenigde Oostindische Compagnie‘.
Wieder am südlichen Ufer angelangt beeindrucken die über und über mit Pflanzen dekorierten Eingangsbereiche einiger Privathäuser entlang der Oudeschans. Im Gegensatz zu Amsterdams berühmten Hinterhausgärten, die nur im Rahmen der jährlichen ‚Open Tuinen Dagen‘ besichtigt werden können, stehen diese grünen Refugien mitten im öffentlichen Raum und keiner vergreift sich daran.
Eine Grachtentour gehört zum Pflichtprogramm in Amsterdam. Die abendliche Variante bietet nicht nur das schönste Licht, sondern lässt sich auch gut mit einem Gläschen kombinieren. Das wissen die Veranstalter und so gehen wir in der Prinsengracht auf Höhe des Anne-Frank-Hauses an Bord eines Bootes, was eher einer Lounge mit Bar in der Mitte gleicht. Die Fahrt mit dem schottischen (!) Kapitän und dem spanischen (!) Moderator und Barkeeper und einem Gläschen in der Hand führt vorbei an ausladenden, teils bepflanzten Haus- und Museumsschiffen bis zu den Amstelsluizen und wieder zurück.
Ein echter Geheimtipp ist das kostenlose Stadsarchief Amsterdam im ehemaligen monumentalen Bankgebäude De Bazel mit seiner aufwendigen Art-Deco-Backsteinfassade. Hier erfahren wir alles Mögliche über Amsterdams Geschichte und stoßen in die früheren, mit bunten Mosaiken dekorierten Schatzkammern vor.
Der Vondelpark ist durch seine Nähe zum Zentrum und mit seinen Freizeitangeboten quasi das niederländische Pendant zum Central Park in Manhattan, allerdings deutlich kleiner. Auf dem Weg dorthin passieren wir das berühmte Rijksmuseum mit seinen alten Meistern und die weitläufige Museumplein. Etwas weiter nördlich und ebenfalls an der Singelgracht prägen Stadsschouwburg, Hirschgebouw und Café Americain den verkehrsreichen Leidseplein.
Nach dem Überqueren der Singelgracht passieren wir in der Roemer Visscherstraat die ‚Zevenlandenhuizen‘, ein Ensemble von sieben Häusern im eklektizistischen Stil von 1894, wobei jedes Gebäude den Baustil eines bestimmten Landes repräsentieren soll. Als ich unter anderem das Haus mit dem Namen ‚Rusland‘ als Fotomotiv wähle, wird mir das sogleich zum Verhängnis. Der wie zufällig vorbeifahrende Streifenwagen hält sofort, einer der Ordnungshüter winkt mich herbei und will wissen, was ich da abgelichtet habe. Scheinbar ist ausgerechnet dieses Gebäude geschützt. Ich gebe alles zu, markiere den Ahnungslosen und komme mit einer Personenkontrolle davon.
Der anschließende Vondelpark mit seinem klassizistischen Pavillon, Freilichtbühnen und zahlreichen Gewässern dient Amsterdams Bevölkerung seit 160 Jahren als Rückzugs- und Erholungsort und war bis Anfang der 70er Jahre zentraler Treffpunkt der Hippie-Bewegung.
Nach nur wenigen Gehminuten in nördlicher Richtung erreichen wir ‚De Hallen‘, ein weitläufiges Kulturzentrum in den Gebäuden des ehemaligen Straßenbahndepots Tollensstraat. Mit Kinos, TV-Studios, kleinen Geschäften, Werkstätten und einer Bibliothek beherbergt es ein breites Angebot. Die ‚FoodHallen‘ locken uns mit ihren gehobenen Snacks aus aller Welt zu einer ausgiebigen Mittagspause. Entsprechend dem Prinzip der Food-Courts holt sich jeder das Gericht vom Stand seiner Wahl und findet sich dann an einem beliebigen Tisch ein.
Nach vier Tagen ist der Spaß zu Ende und wir sitzen im Hinblick auf eine unbeschwerte Heimreise zuversichtlich im Wagen in der Tiefgarage. Mit dem im Voraus beim Vorbetreiber ‚Yays‘ bezahlten Parkticket von stolzen 80 € kommen wir nicht weit. Es entwickelt sich eine langwierige Diskussion mit echten Rezeptionsmitarbeitern und einer virtuellen Assistentin beim neuen Besitzer ‚Numa‘, aber die Buchung bleibt unauffindbar. Man empfiehlt mir schließlich, das Ticket im Parkhaus zu bezahlen, was aber wiederum an der unzulänglichen Technik scheitert. Einer hinter uns stehenden Belgierin geht es genauso. Immerhin funktioniert die Sprachverbindung zur Zentrale und nach gut einer Stunde haben die Parkhausbetreiber ein Einsehen und öffnen die Schranke.
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