Morgens um Zehn auf Kreta...


Panagia Drossiani (6. Jahrhundert)

Den ersten gemeinsamen Urlaub mit meiner Frau, damals Freundin, verbrachte ich vor zwölf Jahren im Hochsommer in Chersonissos. Mein erster Kontakt mit der griechischen Kultur war damals trotz der unbeschreiblichen Hitze ein unvergessliches Erlebnis. Und wie das halt so ist: Nach einigen Jahren sehnt man sich zurück nach den 'prägenden' Orten seines Lebens und fährt wieder hin. Eins vorweg: Nostalgiegefühle sind als Beweggrund in der Regel nicht zu empfehlen, denn meistens überwiegen die positiven Erinnerungen, die Eindrücke können beim zweiten Mal niemals die gleichen sein, denn der Effekt des Neuen fehlt und viele ehemals idyllische Ferienorte erleben in wenigen Jahren eine rasante und meistens negative Veränderung.

1994 kamen wir also wieder und die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten: Chersonissos war ungefähr auf die doppelte Größe angewachsen, der stinkende Verkehr auf der einzigen Durchgangsstraße nahm kein Ende mehr und wilde Müllkippen türmten sich in den Straßengräben. Die damals beschauliche Vergnügungsmeile am Ufer bestand inzwischen fast nur noch aus Souvenirläden und geschmacklos hingeklatschten Touristenfressbuden, davor aufdringliche Animateure, die Glasscheiben zugepflastert mit Fotos von Fastfood und abends ein undefinierbarer Brei stampfender Musik aus den Einheitsbars: Ballermannatmosphäre! Der kleine, 1988 bereits zu enge Kiesstrand war inzwischen hoffnungslos überfüllt.

"Aus der Not eine Tugend machen", dachten wir uns und verbrachten unsere Tage außerhalb dieses Molochs. Diesmal war es Herbst, immer noch nicht die beste Reisezeit, aber von den Temperaturen erträglicher als im August. Die monatelange Trockenheit hatte das Land ausgedörrt, außer dem silbrigen Grün der Olivenbäume gab es nur klägliche braune Überreste der im Frühjahr so prachtvollen Vegetation – ein herber Kontrast, dem ich einen gewissen Reiz trotzdem nicht absprechen möchte.

Panagia Drossiani (6. Jahrhundert)

Privatbrennerei bei Chersonissos

An einem sonnigen Morgen spazierten wir über die Felder oberhalb des Ortes, genossen die nur von Zikadengezirpe untermalte Ruhe und den unverwechselbaren Duft der kretischen Macchia. Gegen 10.00 Uhr kamen wir an einer armseligen Wellblechhütte vorbei. Wir blieben stehen, als wir den starken Qualm aus dem Ofenrohr auf dem Dach bemerkten. Sekunden später kam ein Bauer freundlich winkend heraus und gab uns mit Handbewegungen und ein paar Brocken Englisch zu verstehen, dass wir hineinkommen sollten. Skepsis stand uns ins Gesicht geschrieben, denn schon einmal wurden wir in Griechenland zu einer unerwartet kostenpflichtigen Erfrischung 'eingeladen'. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. "No risk, no fun", dachten wir uns und außerdem sah der Mann nicht unbedingt aus wie ein Schlitzohr. Wir sollten es nicht bereuen...

Privatbrennerei bei Chersonissos

Im Inneren des Verschlags saß auf Holzbänken ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Leuten im Halbkreis um ein großes Holzfass in der Mitte. Wie wir später erfahren sollten, verbargen sich dahinter folgende Charaktere: Ein älteres Ehepaar aus Bayern, eins aus Belgien, ebenso zwei Schotten, eine ältere schwarz gekleidete einheimische Hausfrau mit Einkaufstaschen und ein Pope, also ein orthodoxer Priester im vollen schwarzen Ornat. Alle hatten eine gesunde Gesichtfarbe und waren bestens gelaunt, was uns das Gelächter unschwer signalisierte. Die zwei verdutzten Hessen setzte der Bauer, nennen wir ihn mal Georgios, auf den verbliebenen Platz zu den Bayern und drückte ihnen Becher in die Hand, um sich dann mit seinem Gehilfen wieder ganz seiner Aufgabe an einer abenteuerlichen Konstruktion aus dampfenden Kesseln, Rohren, steinernem Holzofen und diversen Blechbehältern zu widmen. Auf dem Fass vor uns stand eine große Plastikflasche, woraus uns die Schotten unverzüglich eingossen und mit Bestimmtheit zum Umtrunk aufforderten: Yamas! Das Zeug war absolut hochprozentig und noch nicht richtig abgekühlt – und das am frühen Morgen auf nüchternen Magen! Während sein Kumpel die ausgekochte Maische aus dem Kessel holte, erklärte uns Georgios, seines Zeichen Initiator der Verkostung, dass er nur für heute eine Genehmigung zum Brennen von Raki, der etwas grobschlächtigen griechischen Tresterbrandtvariante des Grappa, besäße und daher so viele Leute hier wären. Immer noch ungläubig und zivilisationsverdorben fragte ich gleich, ob er den Schnaps denn verkaufen würde. Keinesfalls, er brenne hier nur zum Spaß, denn es ist nur einmal im Jahr erlaubt, entgegnete er und tatsächlich: Spaß hatten hier wirklich alle im Übermaß...

Wir näherten uns der Mittagszeit und das Thermometer unerbittlich der 30-Grad-Marke. In unserer Wellblechhütte wurde immer noch fleißig eingeschenkt und weiterproduziert. Die Schotten, sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechts, erwiesen sich erwartungsgemäß als unschlagbar und Georgios hatte vorgesorgt: In dem Fass vor uns befand sich nicht das, was wir befürchtet hatten und Ihr sowieso alle erwartet. Nein, frisches kühles Quellwasser wurde zwischendurch immer wieder daraus angeboten und das war angesichts der durchschlagenden Wirkung des Gesöffs auch bitter nötig. Als Grundlage für weitere Runden reichte man uns außerdem heiße Kartoffeln aus dem Holzkohlenfeuer. Mittlerweile waren wir in mehr oder weniger geistreiche Gespräche verwickelt, denn der Pope sprach sehr gut Englisch, ließ die eine oder andere schlüpfrige Bemerkung fallen und die anderen Touristen verstanden wir sowieso. Nach dieser Begegnung war ich mir sicher, dass die griechisch-orthodoxe Kirche keine Nachwuchssorgen haben dürfte, zumal die Priester dort meist glückliche, verheiratete Familienväter sind. Die Belgier hatten zwischenzeitlich Fotos vom Vorjahr ausgepackt, bei deren Betrachtung wir uns kaum noch auf dem Hocker halten konnten: Die selbe Wellblechhütte, die selben Gesichter (mit Ausnahme von uns), die selben Flaschen und Becher, das Holzfass, der selbe geschäftige Georgios an der Destillieranlage – unglaublich das Ganze! Da hier schon fotografiert wurde, wollte ich mit meiner Videokamera nicht nachstehen und habe ein paar Eindrücke gefilmt, die natürlich die Stimmung nur ansatzweise wiedergeben können. Die ältere Griechin war keineswegs die zurückhaltende lebenslang trauernde Witwe sondern furchtbar neugierig und wollte gleich wissen, ob sie sich auch betrachten könne. Über den Sucher schaute sie zunächst ungläubig und danach lauthals lachend das gerade Erlebte an: Natürlich hatte sie weder sich noch andere Bekannte jemals im Fernsehen gesehen.

Es war inzwischen nach 12 und unser Rakikonsum hatte ein Niveau erreicht, dass es die Vernunft gebot, sicherheitshalber den Abgang zu machen. "Wenn´s am schönsten ist, soll man aufhören" lautet ein altes Trinkersprichwort und so zogen wir weiter über die Felder zur nächsten Ortschaft, dem eigentlichen Dorf Chersonissos. Der inzwischen überdimensionierte Badeort Limin Chersonissou war früher lediglich der dazugehörige winzige Fischerhafen. Davon ist bis auf eine kleine Kapelle auf einer Landzunge nichts mehr zu sehen. Wir suchten uns eine schattige Taverne, denn der Alkohol zeigte in der sengenden Sonne seine brutalst mögliche Wirkung und unsere Körper verlangten nach Kohlenhydraten, Mineralien und Vitaminen. Von dort aus hatten wir bei einem erfrischenden Bier einen schönen Blick ins Tal und auf eine Wegekreuzung. Und als wir so in den Nachmittag dahin dämmerten, erblickten unsere ungläubigen Augen genau an dieser Stelle die zwei Schotten, wie sie etwa zwei Stunden nach unserem Abschied von der Rakirunde in halsbrecherischen Schlangenlinien den Hügel hinauf liefen: Während der Mann immer wieder hilflos in den Straßengraben kullerte, richtete ihn seine nicht unbedingt standfestere Frau wieder auf – Wahnsinn!

Was sagt uns nun diese Geschichte? Ganz klar: Selbst auf einer so überlaufenen Insel wie Kreta und in einem ansonsten völlig versauten Ort wie Chersonissos könnt Ihr die unvergesslichsten Situationen erleben, wenn Ihr den Massen in der Hauptsaison, an den Stränden und auf den Tourimeilen aus dem Weg geht und Euch auf die gastfreundlichen Angebote der Einheimischen einlasst. Nur so lernt man fremde Bräuche und Menschen kennen. ;-)

Meine Bewertung bezieht sich daher auf den nach wie vor existenten Kultur- und Erlebnisfaktor dieses klassischen Reiseziels und nicht auf einzelne kaputte Orte.

Einige Sehenswürdigkeiten Kretas im Überblick:

• Knossos

Pitoi in den Magazinen von Knossos Knossos
Knossos

Der sehr frei von Sir Arthur Evans rekonstruierte Palast aus der minoischen Periode hat nicht zuletzt durch seine weltberühmten farbenfrohen Fresken eine ungebrochene Anziehungskraft auf die meisten Kretabesucher. Auch wenn sein Aussehen aus archäologischer Sicht schwer umstritten ist, so geben die wiederaufgebauten Anschnitte zumindest einen groben Eindruck vom mutmaßlichen Ursprung der Sage um den Minotaurus.

Pitoi in den Magazinen von Knossos

• Ághios Nikólaos

Einer der wenigen 'gewachsenen' Ferienorte mit natürlichem Binnenhafen und mehreren Buchten am Mirabellogolf im Osten.

Die Grundmauern von Gourniá

• Gourniá

Einzige vollständig ausgegrabene minoische Stadt (1600 v.Chr.). Sie liegt sehr idyllisch auf einem Bergrücken und frei zugänglich oberhalb der Straße zwischen Ághios Nikólaos und Ierápetra und wird nur von sehr wenigen Touristen besucht. Die Grundmauern sind teilweise bis in Hüfthöhe erhalten und die Straßen intakt.

Die Grundmauern von Gourniá

Straßenzug auf Spinalonga

• Spinalonga

Die wirklich interessante ehemalige Leprainsel mit z.T. spannend-schauriger Geschichte ist per Bootsausflug von Aghios Nikolaos aus zu erreichen und zu erwandern. In den Häuserruinen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, denn die wenigen Einrichtungsgegenstände, die die letzten Aussätzigen in den Fünfziger Jahren zurückgelassen haben, stehen immer noch an ihren ursprünglichen Plätzen, während Dächer und Fußböden über ihnen langsam einstürzen.

Straßenzug auf Spinalonga

• Samaria

Tiefste und längste Schlucht Europas inmitten des kretischen Nationalparks; im Sommer total überlaufenes Wanderparadies.

• Lassithi

Riesige fruchtbare Hochebene mit Tausenden segelbespannten und z.T. noch intakten Windmühlen, welche Grundwasser aus Brunnen in ein künstliches Bewässerungssystem leiten.

• Phaistos

Weitere großartige minoische Palastanlage im Süden, welche wesentlich behutsamer rekonstruiert wurde. In der Nähe liegen das antike Górtys mit seiner 2500 Jahre alten Stadtrechtsinschrift am Odeon und die Ruinen der Titusbasilika.

• Diktäische Höhle

Einer der vielen angeblichen Geburtsorte des Zeus, aber wohl der effektvollste; von der Lassithi-Hochebene bei Psichró zu Fuß oder per Esel erreichbar. (Warnung an alle weiblichen Reisenden: Die bäuerlichen Eseltreiber könnten zwar Eure Großväter sein, lassen es sich dennoch nicht nehmen, jeder Frau einen Abschiedskuss auf die Backe zu drücken...)

• Ierapetra

Beschaulicher Ort an der Südküste mit alter venezianischer Festung, Moschee und baufälligem Minarett, welche von den wahrscheinlich einzigen türkischen Bewohnern Kretas betreut werden.

• Archäologisches Museum Heraklion

Einzigartige Sammlung der auf Kreta gefundenen Stücke aus minoischer, mykenischer und klassischer Periode; sehr vollgestopft, kaum verständliche Beschriftungen und nicht gerade nach neuesten museumspädagogischen Erkenntnissen aufgebaut.

Dies ist natürlich nur eine kleine Auswahl von Orten, die ich selbst gesehen habe. Der Westen Kretas fehlt darin komplett.

Als Transportmittel empfehle ich für alle, die genügend Zeit im Urlaub mitbringen, das sehr gut ausgebaute und preiswerte Linienbussystem.