Lombardei

Prolog

Tignale

Was tut ein überzeugter Bewohner toskanisch-umbrischer Rusticos, wenn er sich nach Jahren der Ignoranz schlussendlich dem berühmtesten und größten Gewässer Norditaliens bereit ist zu widmen? Richtig: Aus lauter Furcht vor der Enge und Hitze an den Gestaden brettert er die westliche Gardesana, einem Wunderwerk der Straßenbaukunst schlechthin, durch unzählige Galerien und Tunnels am See entlang und flüchtet sich in ein unscheinbares Bergdorf Namens Prabione, seines Zeichen wiederum einer von sechs Ortsteilen der Gemeinde Tignale oberhalb des lombardischen Westufers, die es zusammen auf gerade einmal 1300 Einwohner bringen.

Immerhin hat diese Ansammlung von teils Jahrhunderte alten Bruchstein- und modernen Apartmenthäusern den interessanten Agriturismo Al Lambic, den wir auch gerne bewohnt hätten, dessen Ferienwohnungen aber in Folge der fortgeschrittenen Buchungssituation im Februar 2011 nicht mehr an zwei aufeinander folgenden Wochen zu haben waren. Alessandro Virdia, der emsige Manager dieses Unternehmens mit kleinem Ristorante und passionierter Schnapsbrenner, hatte sich jedoch schwer ins Zeug gelegt, um uns die gegenüber liegende Privatwohnung zu vermitteln. Die Zufahrt über extrem enge Gassen gleicht einem Glücksspiel: Nicht mehr als zwei Zentimeter zwischen den Außenspiegeln und den hohen Mauern links und rechts treiben den Angstschweiß auf die Stirn und lassen so gut wie keinen Platz für Lenkmanöver. Und trotzdem soll der dicke Vectra irgendwie unbeschadet die Einfahrt zum kleinen Innenhof passieren.

Darüber hinaus hat es in dem kleinen Ort auch noch ein gemeinschaftliches Freibad, zu dem man uns eine Familienkarte für die gesamte Dauer des Aufenthaltes spendierte, einen kleinen Alimentari und die wunderbare Bar Liliana, was das Dasein vollends lebenswert macht. Dieses Refugium urbaner Lebensfreude wird von einer Familie nahezu 20 Stunden am Tag betrieben – ein bemerkenswerter Kraftakt. Morgens ab fünf fallen dort bereits die ersten Frühaufsteher, Jäger und Handwerker, zum schnellen Kaffee ein, mittags die Müßiggänger zum Aperitif und abends die örtlichen Kartenspieler und wenigen Touristen. Und währenddessen läuft die ganze Zeit der Fernseher. Und dann bringt es der Wirt auch noch fertig, abends mehrere warme Mahlzeiten einschließlich köstlicher handgesägter Pommes, welche auf keiner Karte zu finden sind, zu fabrizieren.

Ein weiteres Highlight von Prabione stellt der Hausberg Monte Castello mit seiner Pilgerkapelle Eremo di Monte Castello dar. Vom Parkplatz führt ein zwar steiler, aber bequemer, asphaltierter und ziemlich langweiliger Kreuzweg die südliche Flanke hinauf bis zum Heiligtum. Viel interessanter sind jedoch die teils halsbrecherischen Waldwege, die wir direkt vom Ort aus über den Naturlehrpfad erreichen und welche in Serpentinen bis an den Steilhang führen. Der Ausblick von hier ist atemberaubend, denn man kann nahezu den gesamten See von Torbole im Norden bis Sirmione im Süden überblicken, sofern man einen klaren Tag erwischt. Nach einigen weiteren hundert Metern vorbei an wie gerade eben frisch in den Fels geschlagene Kasematten aus dem letzten Krieg und einem kleinen Tunnel durch den Fels ist dann auch das überdimensionierte stählerne Gipfelkreuz erreicht.

Wirklich sehenswert, jedoch leider etwas neben dem örtlichen Freibad versteckt, ist das Centro Visitatori Parco Alto Garda Bresciano, welches den hiesigen Naturpark den Besuchern näher bringen soll. Das Museum erklärt in teils aufwendigen interaktiven Installationen die Besonderheiten der Gebirgslandschaft oberhalb des Gardasees.

Tremósine

Ebenso weiträumig verstreut liegen die einzelnen Ortsteile von Tremósine. Über eine fast halbstündige Serpentinenfahrt bis hinunter an den tiefsten Punkt des Valle San Michele und wieder hinauf nach Polzone erreicht man zunächst die Verkaufsstelle der Cooperativa Alpe del Garda mit einer gewaltigen Auswahl an heimischen Delikatessen wie Pasta, Wurst, Schinken, Antipasti, Weinen und insbesondere dem Käse aus der eigenen Produktion. Unser Räumungsverkauf scheitert einzig und allein an den begrenzten Kapazitäten eines voll gepackten Kombis auf der Heimreise. Freundlicherweise kann man die soeben erstandenen Köstlichkeiten im gegenüberliegenden Lokal an Ort und Stelle gleich zusammen mit geistreichen Flüssigkeiten verzehren.

Von Pieve, dem stark verwinkelten Dorf mit Panoramablick direkt an der Steilkante zum See zweigt eine berüchtigte Straße ab und schlängelt sich in atemberaubenden Serpentinen durch das Val di Brasa hinunter bis zur Gardesana Occidentale. In unmittelbarer Nähe zu einem Ausflugslokal bildet die Straße eine enge Schleife und überquert sich auf einer atemberaubend hohen Brücke selbst. Kurz danach lässt bereits der erste Tunneldurchstich direkt neben einer Felskapelle über dem Wildbach Übles erahnen: Gerade mal ein Kleinwagen passt in Höhe und Breite da durch und die Straße ist doch allen Ernstes für den Gegenverkehr freigegeben. Geduldig warten wir davor, bis selbiger an uns vorbei und in der Ferne scheinbar nichts mehr zu hören ist. Die Klamm ist beängstigend eng und zugleich faszinierend. Langsam taste ich mich in das finstere Gewölbe vor und sehe auch schon am Ende des Ausgangs weitere PKW entgegen kommen und glücklicherweise stehen bleiben. Über Galerien, völlig unbeleuchtete Tunnel und mehrere uneinsehbare Spitzkehren geht es hupend in die Tiefe.

An einem glücklicherweise überschaubaren Abschnitt mit Seeblick ist es dann passiert: Vor uns eine ganze Reihe, mindestens 10 in beiden Richtungen verkeilte Fahrzeuge. Weder vor noch zurück bewegt sich irgend etwas, denn von beiden Seiten fahren immer mehr Autos in das Chaos hinein. In der Mitte steigen die ersten deutschen Fahrer wild gestikulierend aus, während die Italiener ratlos vor ihrem Steuer sitzen. Währenddessen schlängeln sich Motorradfahrer aus beiden Richtungen zügig durch das Chaos. Ein Bayer hinter uns meint: „So was hoab I no nett erlebt!“ Er käme aus München, kenne sich aus in so was und überall hätte der vom Berg kommende Vorfahrt, ganz bestimmt auch in Italien. Nur der sture Holländer da vorne behaupte das Gegenteil. In Wirklichkeit hat keiner Recht, denn es gilt, die äußeren Umstände (Fahrzeuggröße, Straßenverhältnisse, verfügbarer Platz usw.) zu berücksichtigen. Nach ungefähr 30 Minuten hoffnungslosem Hin- und Herrangierens hat endlich hat jemand eine zündende Idee und die entsprechende Überzeugungskraft, auch die verbliebenen Hitzköpfe zu einem generalstabsmäßigen Entflechtungsakt zu bewegen. Nachdem praktisch alle beteiligten Fahrzeuge einschließlich unserem per Rückwärtsgang die möglichst günstigste Stelle eingenommen haben – wir kleben regelrecht an der schmalen Mauer, die uns vom Abhang trennt – kann das entscheidende Nadelöhr, ein Kleintransporter mit Touristen, den Weg Richtung Pieve einschlagen und alles löst sich danach in wenigen Sekunden auf, als sei nichts gewesen.

Gargnano

Hat man die zwanzigminütige Talfahrt von Tignale herunter überstanden, sind es nur noch wenige Kilometer bis ins malerische Gargnano, einer langgezogenen Ortschaft am See. Neben der einzigen Hauptstraße, welche in beide Richtungen vom kleinen viereckigen Hafen abzweigt und an der sich leuchtende Bougainvilleen die Häuserwände hinaufranken, lebt das Städtchen im Wesentlichen von seiner traumhaften Uferkulisse. Ein neuer, vor den alten bis ans Wasser gebauten Häusern verlaufender Holzsteg beherbergt die Terrasse der Pizzeria Al Lago – einen erhabeneren Ort für ein Mittagessen kann man sich kaum vorstellen: Unter uns schwimmen Fische und Enten, über uns prunkt mondän der schmiedeeiserne Balkon des zugehörigen Hotels Riviera. Daneben plätschert der See gegen alte, von grünen Algen überzogene Bruchsteinmauern früherer Fischerhäuser. Wenige Schritte weiter endet der Steg am von Orangenbäumchen umsäumten Porto.

Der weiter südlich gelegene Ortsteil Villa hat ebenfalls einen Hafen: Noch kleiner und beschaulicher und auch hier leuchten die Apfelsinen in greifbarer Höhe und einziges Lokal ist die Bar al Porto, in der uns ein mit Piratentuch und Che-Guevara-Anhänger dekorierter Wirt leicht desinteressiert empfängt. Die Bestellung kommt trotzdem zügig und wir genießen das Fehlen jeglichen Touristenrummels. So ruhig ist es hier, dass selbst die Mole des kleinen Hafens Kinder und Jugendliche bis in die Abendstunden zum Baden animiert.

Der Fußweg in das am südlichen Ende Gargnanos liegende Bogliaco lohnt allein schon wegen der grandiosen Villa Bettoni-Cazzago, auch wenn wir Kopf und Kragen riskieren, als wir irgendwann zwangsläufig auf die stark befahrene Gardesana gelangen, welche das herrschaftliche Gebäude aus dem 18. Jahrhundert und die zugehörige italienische Gartenanlage des Amerigo Vincenzo brutal durchschneidet. Der Uferbereich vor der Seeseite des Palazzo gehört zum Privatbesitz und kann nicht betreten werden, jedoch lässt sich auch von der Seite die prachtvolle und repräsentative Strenge des Anwesens erfassen.

Desenzano

... ist insbesondere in den Abendstunden einen Besuch wert. Die mit 26.000 Einwohnern größte Stadt am Gardasee ist mit seinen teils ausgefallenen Beach Clubs zugleich Zentrum für nächtliche Partygänger. Wir sind zwar heute nur auf der Durchreise, erhalten jedoch durch den abendlichen Corso und die Show auf dem Kreisel vor der Fußgängerzone einen Vorgeschmack: Gut versorgte Söhne lassen in ihren Ferraris und hochpreisigen Caprios zur Unterhaltung ihrer gelangweilten Beifahrerinnen die Reifen quietschen.

Limone sul Garda

… wird als eine der Perlen am Gardasee beschrieben. Auf den alten idyllischen Ortskern am nördlichen Hang trifft das auch zu: Enge Gässchen, malerischer Hafen, Bootsanleger und mittendrin eine wunderschön restaurierte Limonaie. Ab 1997 wurde diese als eines der ersten ehemaligen Zitrusgewächshäuser wieder instand gesetzt und mit allen erdenklichen Arten bepflanzt: Orangen, Pomeranzen, Mandarinen, Zitronen, Kumquats, Zitronatzitronen u.v.a. In der Mitte der liebevoll gepflegten Gartenanlage hat man ein kleines, mehrstöckiges, d.h. der Hanglage angepasstes Museum eingerichtet. Neben den detaillierten Herkunfts- und Verwendungsbeschreibungen der einzelnen Früchte erfahren wir auch einiges über die mühsame Pflege der Zitruspflanzen: Auch wenn der Wasserreichtum rund um den See den Anbau enorm begünstigte, machte die geographische Lage – das nördlichste Anbaugebiet in Europa – umfangreiche Schutzmaßnahmen gegen den Winterfrost erforderlich. Die komplette Anlage wurde noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Brettern und Fenstern verschalt und bei Bedarf sogar künstlich beheizt.

In südlicher Richtung wird Limone zunehmend touristischer: Vom winzigen Porto Vecchio im alten Ortskern führen Bogengänge Richtung Porto Nuovo mit seiner überdimensionierten und beflaggten, aber ansonsten gesichtslosen Uferpromenade. Oberhalb der Gardesana beginnt das moderne, in die alten Olivenhaine hinein gebaute Hotelviertel.

Sirmione

Trotz seines berüchtigten Rufs als Touristenmagnet erster Güte gehört das Städtchen auf der über drei Kilometer langen schmalen Halbinsel zu den Zielen, die man am Lago gesehen haben muss. Und so begeben wir uns an einem sonnigen Samstag auf die mühsame, fast zweistündige Anreise in den Süden – immer auf der nicht enden wollenden Gardesana im Kolonnenverkehr entlang. Neben der sehenswerten Scaligerburg versprechen insbesondere die geheimnisvollen „Grotten des Catull“, die überdimensionalen Überreste einer römischen Villa, einen kurzweiligen Nachmittag. Eine zwischenzeitliche Mittagspause führt uns jedoch zunächst nach

Saló,

einem noblen Badeort am eigenen Fjord. Zwei Stadttore begrenzen die verkehrsberuhigte Einkaufsstraße. Der prächtige Duomo ist so dicht umbaut, dass seine wahren Ausmaße nur vom Ufer aus zu erahnen sind. An selbiges grenzt auch das von einer Säulenhalle gestützte Rathaus. Saló erlangte als Sitz der gleichnamigen faschistischen Republik traurige Berühmtheit, als 1943-45 von hier aus in einer unscheinbaren Villa die Reste des noch von den Deutschen kontrollierten italienischen Territoriums im Norden unter dem von Hitler wieder eingesetzten Duce Mussolini regiert wurden und somit die Judendeportationen eine neue Dimension erreichten.

Gegen 14.00 Uhr kommen wir am sittenwidrig teuren Parkplatz vor den Toren Sirmiones an: 2,20 € pro Stunde kann man gut und gerne als mittlere Frechheit bezeichnen, zumal links und rechts keine Ausweichmöglichkeit besteht und ausnahmslos jeder hier seine Kiste abstellen muss, womit die vor uns liegende trutzige Scaligerburg nach wie vor ihre angestammte Funktion der Wegelagerei erfüllt.

Die sich durch die engen Gässchen wälzenden Touristenmassen lassen ein motorisiertes Fortkommen auch gar nicht zu und so ergreifen wir die Flucht nach vorne, vorbei an ungezählten Eissalons und Boutiquen. Ein Uferweg führt zu den schweflig stinkenden heißen Quellen und dem ‚Strand der Blondinen’, dann direkt zur Landspitze mit dem weitläufigen archäologischen Gelände. Die Kinder von EU-Bürgern haben hier freien Eintritt – das nenne ich doch mal konzertierte europäische Bildungspolitik!

Der Weg führt zunächst durch ein modernes Museum mit Keramikfunden und rekonstruierten Fresken, danach durch einen idyllischen Olivenhain, unter dem sich, wie sich dann heraus stellt, mindestens zwei Ebenen des monumentalen Unterbaus eines Sanatoriums und Thermalbads aus dem 2. Jahrhundert verbergen. Auch wenn von der eigentlichen Villa kaum etwas zu sehen ist – einige Pfeiler und einen Aquädukt hat man wieder aufgestellt – sind die riesigen intakten Bögen und Gewölbe mit ihren pittoresken Durchbrüchen zum smaragdgrünen Wasser des Sees schwer beeindruckend. Knapp unter der Wasseroberfläche ist der Verlauf des von zahllosen Rissen durchsetzten Felsplateaus gut zu erkennen. Leider stört das permanente Getöse der um die Halbinsel herumdüsenden geschätzten zehntausend Motorjachten die ansonsten nahezu perfekte Szenerie.

Auf dem Rückweg nehmen wir die in der Mitte verlaufende Straße und kommen am ehemaligen Wohnhaus von Maria Callas, der wahrscheinlich berühmtesten Bürgerin Sirmiones in der Neuzeit vorbei. Die gegenüber liegende Parkanlage hat man dann konsequenterweise gleich nach der Operndiva benannt.

Eine weitere Pflichtübung ist die Ersteigung der Scaligerburg aus dem 13. Jahrhundert, auf die man nur über eine Zugbrücke gelangt und welche im Mittelalter den Zugang nach Sirmione kontrollierte. Vom Mastino, dem großen Turm, überschauen wir sowohl das unglaublich beengte Städtchen als auch die gesamte Halbinsel.

Großen Spaß haben wir dann noch zum Abschluss auf dem Rückweg, als ein in die Jahre gekommener Gigolo mit Kamera seine auch nicht mehr ganz junge Eroberung auf der Hafenmauer mit Abendkleid und Sonnenbrille im Hollywoodstil posieren lässt.

Trentino

Arco

An Riva vorbei und einige Kilometer landeinwärts, mitten im Sarcatal, dem einst durch den eiszeitlichen Etschgletscher geformten Zugang zum Gardasee, liegt das Mekka der Extremsportler. Rund um die Renaissancekirche Collegiata dell’Assunta befinden sich mehrere herrschaftliche Bauten, u.a. der Palazzo Marchetti aus dem 16. Jahrhundert mit seinem weit auskragenden Dach und den pittoresken Schornsteinen. In Arco rasen Mountainbiker wie die Irren durch die Fußgängerzone und in zahllosen Läden kann man sündhaft teures Equipment aus fremdartigen Metallen in rätselhaften Formen und bunten Farben zur Ersteigung senkrechter Felswände erstehen.

Wir bleiben aber lieber bei den traditionellen Fortbewegungsmethoden und erklimmen zu Fuß den Burgberg mit der berühmten Rocca, der regelrecht am Felsen klebenden Skaligerfestung, welche schon Albrecht Dürer um 1495 so faszinierte, dass er sie in einer berühmten Zeichnung festhielt, noch bevor die Franzosen gut zweihundert Jahre später ihr Zerstörungswerk beginnen konnten.

Der steile, aber einfache befestigte Weg führt durch idyllische Olivenhaine, begleitet von Kräuterdüften und Zikadengezirpe. Immer wieder eröffnen sich fantastische Ausblicke auf die von der wuchtigen, im weißen Kalkstein erstrahlenden Collegiata dell’Assunta dominierten Stadt zu Füßen des Berges und den wie ein gewaltiger eiszeitlicher Findling im Dunst des Gardasees verlorenen Monte Brione.

Gleich nach dem Eingang zum Castello passieren wir den Hauptturm, von dem nach der Sprengung durch General Vendôme 1703 nur drei Außenmauern übrig geblieben sind. Von hier aus steigt das Gelände innerhalb der Burganlage immer weiter Richtung Nordosten an. Zahllose Rastplätze bieten atemberaubende Panoramen des Sarcatals, bevor wir mit dem Torre Renghera die höchste Stelle der Festung erreicht haben. Links davon steigen wir wieder hinab zum Torre di Làghel und erblicken kurz davor vom Rand der Burgmauer die terrassierten Hänge des Monte Colodri, einem markanten Felsen mit unzähligen Klettersteigen.

Durch einen kleinen Steineichenwald geht es wieder hinab zum Ausgangspunkt, der großen Wiese vor dem Haupteingang, wo man freundlicherweise eine Bar eingerichtet hat und sich im weichen Gras die geschundenen Füße vertreten kann. Innerhalb der Burg existiert sogar eine moderne, heute leider geschlossene Osteria.

Cascata Varone

Das von einer privaten Initiative erschlossene Naturwunder in Varone am westlichen Rand des Sacratals darf auf der Heimfahrt von Arco nicht fehlen. Der etwas überteuerte Eintritt (5,50 €), welcher den umgebenden botanischen Garten mit einschließt, ist nach dem Betreten der engen, fast 100 Meter hohen Klamm schnell vergessen, denn ab jetzt ist Vorsicht vor dem aus allen Richtungen kommenden feinen Regen geboten. Mit ohrenbetäubendem Getöse stürzen die Wassermassen des weiter oben gelegenen Tennosees senkrecht in die Tiefe und bohren sich Jahr für Jahr immer tiefer in den Berg.

Venetien

Sant’Ambrogio di Valpolicella

Die rund zweistündige Anfahrt ins berühmte Weinbaugebiet nördlich von Verona soll uns nicht abschrecken, denn ein Halt mit Mittagessen im malerischen Peschiera (s.u.) macht die Tour erträglich. Anschließend geht es durch das gar nicht mehr so idyllische Marmorindustriegebiet nach Sant’Ambrogio, dem Hauptort im Valpolicella. Ziel ist die Enoteca im Ortsteil San Giorgio auf dem steilen Hügel nordöstlich. Das ganze Dorf ist von Baustellen blockiert und wir schaffen es gerade so auf einen provisorischen Parkplatz vor der romanischen Pfarrkirche. Davor liegt ein Kreuzgang aus dem 10. Jahrhundert (!), dessen Kapitelle fein herausgearbeitete Ornamente zieren. Auf dem Platz vor dem hohen Glockenturm liegen wie zufällig arrangiert mächtige römische Mauerblöcke herum. Wir bewegen uns weiter ins Zentrum, vorbei an zauberhaften Fernblicken auf Zypressen, Hügel und den südlichen Gardasee mit der Silhouette Sirmiones. Als wir endlich vor der Enoteca stehen, müssen wir uns erneut der italienischen Siestakultur geschlagen geben, denn der Laden macht erst heute Abend wieder auf. Lodorico, der freundliche Wirt in der gegenüberliegenden Sternetrattoria Dalla Rosa Alda zeigt uns zunächst seine Räumlichkeiten, da er potentielle Gäste glaubt vor sich zu haben, ist dann aber gar nicht enttäuscht, als wir ihn nur nach der Probierstube versuchen auszufragen, sondern holt bereitwillig einen Valpolicellaweinführer, um uns dort seine drei Favoriten der näher gelegenen Weingüter zu empfehlen. Welch ein Service!

Boscaini La Preosa

Das erste der Weingüter, die Azienda Agricola Boscaini Carlo, erreichen wir nach einer steilen Anfahrt am Ende der Via Sengia unscheinbar auf einem Hügel. Alle Türen scheinen verschlossen, aber das sollte grundsätzlich nicht abschrecken, wenn man in Italien auf geistiger Einkaufstour weilt. Einer der Eingänge entpuppt sich als der zur eher rustikalen Probierstube mit altem Holztisch in der Mitte und dem im ärmellosen Unterhemd durch sein aktuelles Angebot führenden Winzermeister – einer der beiden Brüder Mario und Carlo. Die Probe verläuft wie üblich im improvisierten Rahmen, d. h. auf Zuruf der jeweiligen Etikettentitel und begleitet von wohlwollenden Gesten. Nach und nach probieren wir alle Kostbarkeiten vom Valpolicella Classico über den Superiore Ripasso, den berühmten Amarone und den Recioto durch, um mehr oder weniger von jedem etwas und oben drauf noch eine Flasche hauseigenes Olivenöl in den Kofferraum zu verladen. Kurz bevor wir losfahren können, kommt Mario (oder Carlo?) noch mal zu uns gelaufen, als er sieht, wie ich im Weinführer blättere. Ohne zu zögern weist er mich auf die 10%ige Rabattaktion für ausgesuchte Weingüter im Anhang hin, u.a. Boscaini, und wir verständigen uns auf eine Flasche oben drauf.

Corte Aleardi Superiore

Die nächste Station ist die Azienda Agricola Corte Aleardi im gleichen Ortsteil Gargagnago in der Via Giare. Diesmal scheuchen wir den Herrn des Hauses, Carlo Ferrari, aus der Siesta auf, was ihn jedoch nicht daran hindert, uns bereitwillig seinen Keller aufzuschließen. Auf der rechten Seite des Gewölbekellers stapeln sich bereits zahllose verpackte Kartons, während Signore für uns am Tisch in der Mitte eine Probe improvisiert. Auch hier kommt der Classico, der Superiore und als Besonderheit der Superiore Montepalà, welcher vor der Pressung 20 Tage lang auf Holzrosten getrocknet wurde, mit ins Gepäck.

Peschiera

Das kleine Städtchen am südöstlichen Ende des Sees hatten wir bereits auf der Hinfahrt als Zwischenstopp für die Mittagspause auserkoren. Auch die Heimfahrt unterbrechen wir gerne, um uns dem Corso vorbei an den Trattorien am idyllischen Kanal zwischen den beiden Inseln anzuschließen. Allein der Zugang vom südwestlichen Festland über den Wassergraben durch die mächtigen venezianisch-österreichischen Bastionen in den historischen Ortskern ist ein Erlebnis: Eine schmale mit Kopfstein gepflasterter Brücke führt über azurblaues Wasser im Graben durch ein steinernes Tor in der ansonsten ebenmäßigen Festungsmauer, welche nach oben durch einen grünen Vegetationsteppich gekrönt wird. Über lebhafte Einkaufsstraßen geht es bis an den Canale di Mezzo mit seinem Jachthafen. Die beiden Brücken und die langgezogene Front der Palazzina Storica auf der gegenüber liegenden Insel runden das venezianische Gesamtbild ab.

Malcésine

Lange haben wir die kostspielige Investition für eine vierköpfige Bootstour auf dem Gardasee vor uns her geschoben, aber alles Jammern hilft nicht: Die Überfahrt ans östliche Ufer gehört einfach zum Pflichtprogramm und für schmerzvolle 35,60 € inklusive Kinderermäßigung lässt man uns am alten Hafen von Limone an Bord. Die Perspektiven von unterwegs sind in der Tat anders: Die Altstadt von Limone drängelt sich auf einem winzigen Uferstreifen vor den dahinter sich auftürmenden Felsmassen des Monte Carone. Auch die ganze volle Pracht des Castello Scaligero von Malcésine erschließt sich erst vom See aus. Abgesehen davon ist dies ebenso der Weg, den damals am 14. September 1786 unser Herr Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe nahm, bevor er später an Land der Spionage bezichtigt und festgenommen wurde.

Vom lebhaften neuen Hafen aus werden wir sogleich in das Gewirr der völlig verwinkelten Altstadt aufgesogen. In kaum zwei Meter breiten Gassen haben winzige Trattorien ihre Stühle aufs holprige Kopfsteinpflaster gestellt. Wir lassen uns jedoch weiter treiben und bleiben schließlich kurz vor dem Ziel an einer steinernen Tafel stehen: „Hinc J.W.Goethe Id. Sept. MDCCLXXXVI arcem delineavit“ was so viel heißt wie der gute hat von hier aus die Burg gemalt und wurde dabei ertappt.

Zum Glück dürfen wir heutzutage so viele Bilder machen, wie wir wollen, denn das Kastell ist ein echtes Schmuckstück. Von malerischen ineinander verschachtelten Innenhöfen eröffnen sich immer wieder traumhafte Aussichten über ein Wirrwarr von Schwalbenschwanzzinnen auf die Altstadt von Malcésine und den See. Zu Ehren des berühmten Besuchers hat man sogar ein kleines Goethe-Museum mit einer Bronzebüste davor sowie Handschriften und Skizzen eingerichtet.

Auf dem Rückweg durch die Altstadt biege ich in die enge Via Porto Vecchio ab und lande schließlich an der gleichnamigen alten Anlegestelle, welche inzwischen mit lustigen Tierskulpturen zu einem idyllischen Treffpunkt hergerichtet wurde. Die verwinkelte Gasse führt zurück auf die Via Capitanato von wo aus es uns rechter Hand mit einem Eis bewaffnet durch den Palazzo dei Capitani auf die zugehörige ruhige Terrasse am See verschlägt – in der Tat ein Ort zum Durchatmen.

Verona

Man kann wahrlich behaupten, den kulturellen Höhepunkt erreicht zu haben, sofern die Stadt an der Etsch in das Exkursionsprogramm Gardasee Einzug gehalten hat. Natürlich ist auch für uns die großartige Arena, das römische Amphitheater, welches fast 2000 Jahre nach seiner Entstehung nach wie vor regelmäßig bis zu 22.000 Zuschauer aufnimmt, der Hauptanziehungspunkt. Die günstigere Verkehrssituation im Umkreis der Großstadt lässt die Anreise an einem Sonntag sinnvoll erscheinen.

Bereits nach dem Passieren des Stadttores (Portoni della Brà) erreichen wir die weitläufige Piazza Brà mit dem ovalen Rund des Theaters im Hintergrund. Ganze vier Arkaden der einst monumentalen, den eigentlichen Tribünenbau umgebenden Marmoraußenmauer sind erhalten geblieben, nachdem ein Erdbeben den Ring zu einem billigen innerstädtischen Steinbruch werden ließ. In seinem nahezu vollständig erhaltenen Innenraum erlebt das Theater jedoch bis heute kolossale Opernaufführungen und bietet insbesondere antiken Stoffen wie Aida ein authentisches Bühnenbild. Auch die riesigen Gewölbe unterhalb der Zuschauerränge sind vollkommen intakt und stehen in ihrer perfekten Funktionalität modernen Stadienbauten in nichts nach.

Geradezu magischer Anziehungskraft erfreut sich die Casa di Giulietta in der Via Cappello. An diesem Ort soll einst Shakespeares tragische Geschichte gespielt haben, was bis heute junge Paare zu Abertausenden nach Verona und ausschließlich in diesen Innenhof pilgern lässt, um wenigstens einmal der Angebeteten auf dem Balkon zuzuwinken. Während dort mittlerweile dem Vandalismus Einhalt geboten wurde, gibt der Eingang zur Straße mit seinem von zahlreichen Filzstiftgraffitischichten und Kaugummis übersäten Mauerwerk und den unsäglichen Vorhängeschlössern, mit denen Europa weit ganze Brücken an ihre statische Belastungsgrenze gebracht wurden, ein eher trauriges Bild ab. Schnell verlassen wir diesen Platz des kollektiven Wahnsinns und wenden uns schöneren Orten zu, z.B. der Etsch ...

Zunächst aber überqueren wir die Piazza delle Erbe mit der Fontana di Madonna Verona in der Mitte, den Ort des früheren Forum Romanum. An der Nordwestseite erheben sich der Palazzo Maffei und der Torre del Gardello, davor thront der Löwe von San Marco auf seiner Marmorsäule. Über eine kleine Verbindungsgasse mit zwei Bögen erreichen wir die Piazza dei Signori, an deren Rand sich auf einem tieferen Niveau noch original römisches Straßenpflaster erhalten hat. Neben dem Palazzo della Ragione mit seinem markanten 84 Meter hohen Torre Lamberti im Südwesten wird der Platz nach Nordosten hin von der Loggia del Consiglio und dem mit Schwalbenschwanzzinnen bewehrten Palazzo del Governo und seinem prachtvollen klassizistischen Marmorportal samt venezianischem Löwen flankiert. Den Innenhof des Gerichtspalasts (Corte del Mercato Vecchio) sollte man nicht verpassen, denn hier führt eine bombastische Freitreppe zu einem Portal im Obergeschoss, gegen dessen Balkon derjenige der Casa di Giulietta wie der Ausguck eines Reihenhauses wirkt.

Je mehr wir uns Richtung Norden dem Ende der Halbinsel der Veroneser Innenstadt, welche der Fluss durch seine Enge Schleife geformt hat, nähern, desto weniger Touristen begegnen wir. An der Chiesa di Sant'Anastasia überrascht das aufwendig mit buntem Marmor erbaute Hauptportal, während der Rest der Kirche mit seiner Backsteinfassade eher zurückhaltend wirkt. Vom Ufer der Etsch aus bestaunen wir den über zweitausend Jahre alten römischen Ponte Pietra und den Hügel von San Pietro auf der anderen Flussseite.

Nach einem kurzen Espresso für erstaunlich günstige 80 Cent in einer nahegelegen Bar direkt am Fluss geht es weiter durch ruhige Gassen mit viel restaurierter alter Bausubstanz, aber auch vorbei an Häusern mit bröckelndem Putz und maroden Balkonen. Süffisanterweise residiert in einem dieser morbiden Stücke der österreichische Konsul – ein hämischer Seitenhieb aus einem einstigen Machtbereich der Donaumonarchie? Einige Ecken später erstrahlt der Duomo Santa Maria Matricolare standesgemäß, wie sich das für Italien gehört, mit einer marmorgestreiften Fassade und weißen Giebeln.

Nach einem gehetzten Wettlauf quer durch die Altstadt – die Kommentare der jugendlichen Reisegruppenteilnehmer hinsichtlich des Programmablaufes werden zusehends ungehaltener – kommen wir an der Porta dei Borsari aus dem 3. Jahrhundert wieder heraus, einer der besterhaltenen römischen Hinterlassenschaften. Es schließt sich der nunmehr wieder für den Verkehr freigegebene Corso Cavour an und führt – oh Wunder – schnurgerade am Castelvecchio vorbei, womit sämtliche Vorwürfe eines angeblich absichtlich gewählten Umweges zum Zwecke weiterer strapaziöser kultureller Exkursionen auf einen Schlag widerlegt wären. Im weitläufigen Innenhof dieses von Schwalbenschwanzzinnen nur so überquellenden Machwerks der Skaliger erwehren wir uns noch kurz eines weiteren vergeblichen Angriffs („Ja, der Rückweg führt genau hier durch!“) und stehen am Ende dann doch voller Verzückung auf dem Ponte Scaligero, eines einzigartigen Brückenbauwerks aus der gleichen Zeit (14. Jahrhundert).

Rugiada delle Alpi

Epilog

Eines abends sitzen wir wieder in Alessandros kleinem Lokal und Agriturismo Al Lambic in Prabione. Das total verwinkelte Gebäude aus dem 14. Jahrhundert beherbergt im Untergeschoss Gasträume auf mehreren Ebenen und wir haben ausgerechnet den exponiertesten Tisch direkt vor der Jahrhunderte alten Destillieranlage ergattert. Hier entsteht der Rugiada delle Alpi, ein doppelt gebrannter Grappa mit feinsten Geschmacksnuancen, auf gerade mal 1250 Flaschen im Jahr limitiert – mehr erlaubt das uralte, bis heute geltende Privileg der Familie nicht.

Irgendwann kommen die köstlichen Tortelloni caserecci di castagne al burro di malga, hausgemachte Maronentortelloni nach eigenem Rezept der Seniorchefin des Hauses und während die Pasta auf der Zunge zergehen, malen wir uns im Geiste aus, wie Generationen von Schnapsbrennern den alten mit Trester gefüllten Kupferkessel über dem Holzfeuer erhitzt und in Stunden langen Prozeduren geduldig Alkohol und Aromen aus den so erzeugten Dämpfen destilliert haben.