Ala

Auf dem Weg nach Mittelitalien sind wir einige Jahre blind durch das Etschtal gebrettert, ohne einen Gedanken an die umgebende Kulturlandschaft zu verschwenden. Auch als uns die Touren mit zum Teil 1300 Kilometern schließlich zu viel wurden und wir begannen, eine Übernachtung in einem gesichtslosen Hotel in der Ortschaft Ala einzulegen, bekamen wir von der hiesigen Lebensweise nicht viel mit. Zugegeben: Die Holzofenfladen aus der hauseigenen Pizzeria waren vorzüglich und die Begegnung mit der örtlichen Dorfjugend in der Bar Central unterhaltsam. Aber dass Ala sehr viel mehr zu bieten hatte, wurde uns erst 2012 bewusst, als wir uns die Mühe machten, den alten Ortskern im abendlichen Licht zu erkunden. Uns begegneten Menschen in mittelalterlichen Kostümen, weite Teile der Stadt waren plakatiert, offensichtlich wurde ein wichtiges Fest gefeiert. Im oberen Teil des Gassenwirrwarrs landeten wir gegen 22.00 Uhr in einer gemütlichen Bar, welche, wie sich später herausstellen sollte, die älteste ununterbrochen betriebene Kneipe Italiens sein soll.

Nun, drei Jahre später, gibt es keine Ausrede mehr. Wir haben nach einer angenehmeren Unterkunft gesucht und sie etwas außerhalb der Ortschaft in einem kleinen Agriturismo gefunden. Eine junge Familie von Obstbauern hat das Gebäudeensemble aus dem 16. Jahrhundert renoviert und zehn geräumige Zimmer für Durchreisende wie uns geschaffen. Der lauschige Garten im Innern entschädigt für den Lärm der unmittelbar am Anwesen vorbei führenden Landstraße und Eisenbahnlinie und das immerwährende Rauschen der A22 im Etschtal.

Am Abend nach dem Einchecken schlägt uns die Wirtin eine Führung durch Ala mit einem einheimischen Führer vor. Nach einem kurzen Telefonat willigen wir einem Treffen noch am selben Abend in einem örtlichen Ristorante ein. Als wir dort eintreffen, wird mir bewusst, dass wir gar nicht wissen, wie Ugo überhaupt aussieht. Nach dem ersten Gang löst sich ein älterer Herr vom übernächsten Tisch und kommt auf uns zu. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen um 10.00 Uhr am Rand der Altstadt.

Den Treffpunkt vor einer Bar finden wir erst nach einigem Herumirren. Ala ist nicht gerade groß, jedoch zweigt keine einzige Gasse im rechten Winkel von der anderen ab. Wir bekommen zunächst den Palazzo Angelini von außen zu sehen. Der alles überragende Palazzo Malfatti-Azzolini an der zentralen Piazza San Giovanni hatte eigene Stallungen mit Holzfußböden, um den Pferden im Winter optimale klimatische Bedingungen zu bieten. Nach dem Passieren der prunkvollen Eingangshalle führt uns Ugo schließlich im hinteren Bereich vorbei an der Hauskapelle in eine parkähnliche Gartenanlage. Auf zwei Plastikstühlen sitzen zwei ältere Damen vor einem Jugendstilwintergarten im Schatten eines sehr seltenen riesigen Gingkobaumes und blicken auf ihre Palmen, während ein Gärtner den Rosengang pflegt.

Anschließend bestaunen wir einen original restaurierten mechanischen Webstuhl, auf dem in mühevoller Kleinarbeit Alas größter Schatz, der Seidensamt hergestellt wurde. Einige Meter weiter an der Via Santa Caterina erheben sich die Palazzi Pizzini, worin Napoleon Bonaparte 1796 vor seinem Einmarsch ins Trentino übernachtete.

Zum Abschluss zeigt uns Ugo sein Heiligtum: In einem Anbau der auf einer Anhöhe gelegenen Chiesa Parrocchiale di Santa Maria Assunta ist seine riesige selbst gebaute und animierte Grippe untergebracht und verbreitet ganzjährige Adventsstimmung. Zum Dank lade ich den netten Herrn in der nächsten Bar zu einem Aperitif ein.

Avio

Eine der beeindruckendsten Burgen des Trentino ist das nächste Ziel des Tages. Oberhalb vom wesentlich kleineren Avio klebt sie seit dem 11. Jahrhundert regelrecht am Hang und überblickt das seit dem Altertum als Nord-Süd-Verbindung bedeutende Vallagarina. Das Castello di Sabbionara war bei unserem letzten Besuch vor drei Jahren gegen Abend leider schon verschlossen. Der Anstieg entpuppte sich aber damals schon als lohnenswert und verläuft, begleitet von einem Zikadenkonzert, steil zwischen Weinbergen entlang alter Bruchsteinmauern, durch ein kleines Waldstück und schließlich durch einen Olivenhain bis zum unteren Burgtor.

Diesmal sind wir früher und Dank der von unserer Vermieterin organisierten Trentino-Card ist das Ganze sogar kostenlos. Im Inneren der Anlage verlaufen die Wege vom ersten Mauerring in Serpentinen nach oben, zum Teil von Reben überrankt, von Ölbäumen flankiert und ebenso steil wie beim vorherigen Anstieg. Man durchläuft zwei Etagen eines mit sehr gut erhaltenen Fresken verzierten Wächterhauses. An der höchsten Stelle des Geländes steht der Palazzo Baronale und dahinter der mächtige Bergfried. Über mehrere Stockwerke und das sogenannte Liebeszimmer mit zum Teil wunderbaren Fresken aus dem 14. Jahrhundert gelangen wir zur überdachten Beobachtungsplattform. Von dort überblickt man weite Teile des Vallagarina und somit wird deutlich, warum die Erbauer genau diesen Ort am Fuß des Monte Baldo gewählt haben. Oberhalb der Ostmauer, gegenüber dem Torgebäude, erhebt sich etwa auf gleicher Höhe der Torre della Picadora. Auf dem von markanten Bögen gekrönten Turm wurden zur Abschreckung einst Verurteilte für alle weithin sichtbar erhängt.

Rovereto

ist eine im ersten Weltkrieg schwer umkämpfte Stadt oberhalb von Ala auf der Höhe des nördlichen Gardaseeufers. Bis 1919 gehörte ‚Rofereit‘ zu Tirol und somit zu Österreich-Ungarn. Das malerische Centro Storico erreichen wir nach geduldigem Stop-and-go über chronisch verstopfte Vorortstraßen. In den verkehrsberuhigten Altstadtgassen finden wir mondäne Arkaden, Jugendstilfassaden, venezianische Palazzi und Barockkirchen, wie jene der Chiesa della Madonna di Loreto an der Haupteinkaufsstraße Via Giuseppe Garibaldi. An der einladenden Piazza Cesare Battisti, gleich zu Beginn der Via Rialto verbreitet die Fontana del Nettuno etwas toskanische Stimmung. Die Via Portici ist in ihrem südlichen Abschnitt nahezu komplett mit Gewölben überbaut. Nachdem ich diesen finsteren Abschnitt hinter mir gelassen habe, stehe ich vor einem martialischen stählernen Ungetüm aus dem ersten Weltkrieg, einer Skoda-Mörser-Kanone. Diese markiert das Museo Storico Italiano della Guerra, das größte Kriegsmuseum Italiens im ehemaligen venezianischen Castello. Die parallel verlaufende Via della Terra führt von der Piazza San Marco mit der gleichnamigen Chiesa, welche eine Orgel verwahrt, auf der Mozart sein erstes Konzert in Italien gab, unter dem Torre Civica hindurch und endet ebenfalls an der Burg und dem schräg gegenüber liegenden Palazzo Pretorio.

Arco

An Riva vorbei und einige Kilometer landeinwärts, mitten im Sarcatal, dem einst durch den eiszeitlichen Etschgletscher geformten Zugang zum Gardasee, liegt das Mekka der Extremsportler. Rund um die Renaissancekirche Collegiata dell?Assunta befinden sich mehrere herrschaftliche Bauten, u.a. der Palazzo Marchetti aus dem 16. Jahrhundert mit seinem weit auskragenden Dach und den pittoresken Schornsteinen. In Arco rasen Mountainbiker wie die Irren durch die Fußgängerzone und in zahllosen Läden kann man sündhaft teures Equipment aus fremdartigen Metallen in rätselhaften Formen und bunten Farben zur Ersteigung senkrechter Felswände erstehen.

Wir bleiben aber lieber bei den traditionellen Fortbewegungsmethoden und erklimmen zu Fuß den Burgberg mit der berühmten Rocca, der regelrecht am Felsen klebenden Skaligerfestung, welche schon Albrecht Dürer um 1495 so faszinierte, dass er sie in einer berühmten Zeichnung festhielt, noch bevor die Franzosen gut zweihundert Jahre später ihr Zerstörungswerk beginnen konnten.

Der steile, aber einfache befestigte Weg führt durch idyllische Olivenhaine, begleitet von Kräuterdüften und Zikadengezirpe. Immer wieder eröffnen sich fantastische Ausblicke auf die von der wuchtigen, im weißen Kalkstein erstrahlenden Collegiata dell?Assunta dominierten Stadt zu Füßen des Berges und den wie ein gewaltiger eiszeitlicher Findling im Dunst des Gardasees verlorenen Monte Brione.

Gleich nach dem Eingang zum Castello passieren wir den Hauptturm, von dem nach der Sprengung durch General Vendôme 1703 nur drei Außenmauern übrig geblieben sind. Von hier aus steigt das Gelände innerhalb der Burganlage immer weiter Richtung Nordosten an. Zahllose Rastplätze bieten atemberaubende Panoramen des Sarcatals, bevor wir mit dem Torre Renghera die höchste Stelle der Festung erreicht haben. Links davon steigen wir wieder hinab zum Torre di Làghel und erblicken kurz davor vom Rand der Burgmauer die terrassierten Hänge des Monte Colodri, einem markanten Felsen mit unzähligen Klettersteigen.

Durch einen kleinen Steineichenwald geht es wieder hinab zum Ausgangspunkt, der großen Wiese vor dem Haupteingang, wo man freundlicherweise eine Bar eingerichtet hat und sich im weichen Gras die geschundenen Füße vertreten kann. Innerhalb der Burg existiert sogar eine moderne, heute leider geschlossene Osteria.

Cascata Varone

Das von einer privaten Initiative erschlossene Naturwunder in Varone am westlichen Rand des Sacratals darf auf der Heimfahrt von Arco nicht fehlen. Der etwas überteuerte Eintritt (5,50 ?), welcher den umgebenden botanischen Garten mit einschließt, ist nach dem Betreten der engen, fast 100 Meter hohen Klamm schnell vergessen, denn ab jetzt ist Vorsicht vor dem aus allen Richtungen kommenden feinen Regen geboten. Mit ohrenbetäubendem Getöse stürzen die Wassermassen des weiter oben gelegenen Tennosees senkrecht in die Tiefe und bohren sich Jahr für Jahr immer tiefer in den Berg.