Prolog

Tignale

Was tut ein überzeugter Bewohner toskanisch-umbrischer Rusticos, wenn er sich nach Jahren der Ignoranz schlussendlich dem berühmtesten und größten Gewässer Norditaliens bereit ist zu widmen? Richtig: Aus lauter Furcht vor der Enge und Hitze an den Gestaden brettert er die westliche Gardesana, einem Wunderwerk der Straßenbaukunst schlechthin, durch unzählige Galerien und Tunnels am See entlang und flüchtet sich in ein unscheinbares Bergdorf Namens Prabione, seines Zeichen wiederum einer von sechs Ortsteilen der Gemeinde Tignale oberhalb des lombardischen Westufers, die es zusammen auf gerade einmal 1300 Einwohner bringen.

Immerhin hat diese Ansammlung von teils Jahrhunderte alten Bruchstein- und modernen Apartmenthäusern dem interessanten Agriturismo Al Lambic, den wir auch gerne bewohnt hätten, dessen Ferienwohnungen aber in Folge der fortgeschrittenen Buchungssituation im Februar 2011 nicht mehr an zwei aufeinander folgenden Wochen zu haben waren. Der emsige Manager dieses Unternehmens mit kleinem Ristorante, Alessandro Virdia und passionierter Schnapsbrenner, hatte sich jedoch schwer ins Zeug gelegt, um uns die gegenüber liegende Privatwohnung zu vermitteln. Die Zufahrt über extrem enge Gassen gleicht einem Glücksspiel: Nicht mehr als zwei Zentimeter zwischen den Außenspiegeln und den hohen Mauern links und rechts treiben den Angstschweiß auf die Stirn und lassen so gut wie keinen Platz für Lenkmanöver. Und trotzdem soll der dicke Vectra irgendwie unbeschadet die Einfahrt zum kleinen Innenhof passieren.

Darüber hinaus hat es in dem kleinen Ort auch noch ein gemeinschaftliches Freibad, zu dem man uns eine Familienkarte für die gesamte Dauer des Aufenthaltes spendierte, einen kleinen Alimentari und die wunderbare Bar Liliana, was das Dasein vollends lebenswert machte. Dieses Refugium urbaner Lebensfreude wird von einer Familie nahezu 20 Stunden am Tag betrieben – ein bemerkenswerter Kraftakt. Morgens ab fünf fallen dort bereits die ersten Frühaufsteher, Jäger und Handwerker, zum schnellen Kaffee ein, mittags die Müßiggänger zum Aperitif und abends die örtlichen Kartenspieler und wenigen Touristen. Und währenddessen läuft die ganze Zeit der Fernseher. Und dann bringt es der Wirt auch noch fertig, abends mehrere warme Mahlzeiten einschließlich köstlicher handgesägter Pommes, welche auf keiner Karte zu finden sind, zu fabrizieren.

Ein weiteres Highlight von Prabione stellt der Hausberg Monte Castello mit seiner Pilgerkapelle Eremo di Monte Castello dar. Vom Parkplatz führt ein zwar steiler, aber bequemer, asphaltierter und ziemlich langweiliger Kreuzweg die südliche Flanke hinauf bis zum Heiligtum. Viel interessanter sind jedoch die teils halsbrecherischen Waldwege, die wir direkt vom Ort aus über den Naturlehrpfad erreichen und welche in Serpentinen bis an den Steilhang führen. Der Ausblick von hier ist atemberaubend, denn man kann nahezu den gesamten See von Torbole im Norden bis Sirmione im Süden überblicken, sofern man einen klaren Tag erwischt. Nach einigen weiteren hundert Metern vorbei an wie gerade eben frisch in den Fels geschlagene Kasematten aus dem letzten Krieg und einem kleinen Tunnel durch den Fels ist dann auch das überdimensionierte stählerne Gipfelkreuz erreicht.

Wirklich sehenswert, jedoch leider etwas neben dem örtlichen Freibad versteckt, ist das Centro Visitatori Parco Alto Garda Bresciano, welches den hiesigen Naturpark den Besuchern näher bringen soll. Das Museum erklärt in teils aufwendigen interaktiven Installationen die Besonderheiten der Gebirgslandschaft oberhalb des Gardasees.

Tremósine

Ebenso weiträumig verstreut liegen die einzelnen Ortsteile von Tremósine. Über eine fast halbstündige Serpentinenfahrt bis hinunter an den tiefsten Punkt des Valle San Michele und wieder hinauf nach Polzone erreicht man zunächst die Verkaufsstelle der Cooperativa Alpe del Garda mit einer gewaltigen Auswahl an heimischen Delikatessen wie Pasta, Wurst, Schinken, Antipasti, Weinen und insbesondere dem Käse aus der eigenen Produktion. Unser Räumungsverkauf scheitert einzig und allein an den begrenzten Kapazitäten eines voll gepackten Kombis auf der Heimreise. Freundlicherweise kann man die soeben erstandenen Köstlichkeiten im gegenüberliegenden Lokal an Ort und Stelle gleich zusammen mit geistreichen Flüssigkeiten verzehren.

Von Pieve, dem stark verwinkelten Dorf mit Panoramablick direkt an der Steilkante zum See zweigt eine berüchtigte Straße ab und schlängelt sich in atemberaubenden Serpentinen durch das Val di Brasa hinunter bis zur Gardesana Occidentale. In unmittelbarer Nähe zu einem Ausflugslokal bildet die Straße eine enge Schleife und überquert sich auf einer atemberaubend hohen Brücke selbst. Kurz danach lässt bereits der erste Tunneldurchstich direkt neben einer Felskapelle über dem Wildbach Übles erahnen: Gerade mal ein Kleinwagen passt in Höhe und Breite da durch und die Straße ist doch allen Ernstes für den Gegenverkehr freigegeben. Geduldig warten wir davor, bis selbiger an uns vorbei und in der Ferne scheinbar nichts mehr zu hören ist. Die Klamm ist beängstigend eng und zugleich faszinierend. Langsam taste ich mich in das finstere Gewölbe vor und sehe auch schon am Ende des Ausgangs weitere PKW entgegen kommen und glücklicherweise stehen bleiben. Über Galerien, völlig unbeleuchtete Tunnel und mehrere uneinsehbare Spitzkehren geht es hupend in die Tiefe.

An einem glücklicherweise überschaubaren Abschnitt mit Seeblick ist es dann passiert: Vor uns eine ganze Reihe, mindestens 10 in beiden Richtungen verkeilte Fahrzeuge. Weder vor noch zurück bewegt sich irgend etwas, denn von beiden Seiten fahren immer mehr Autos in das Chaos hinein. In der Mitte steigen die ersten deutschen Fahrer wild gestikulierend aus, während die Italiener ratlos vor ihrem Steuer sitzen. Währenddessen schlängeln sich Motorradfahrer aus beiden Richtungen zügig durch das Chaos. Ein Bayer hinter uns meint: „So was hoab I no nett erlebt!“ Er käme aus München, kenne sich aus in so was und überall hätte der vom Berg kommende Vorfahrt, ganz bestimmt auch in Italien. Nur der sture Holländer da vorne behaupte das Gegenteil. In Wirklichkeit hat keiner Recht, denn es gilt, die äußeren Umstände (Fahrzeuggröße, Straßenverhältnisse, verfügbarer Platz usw.) zu berücksichtigen. Nach ungefähr 30 Minuten hoffnungslosem Hin- und Herrangierens hat endlich hat jemand eine zündende Idee und die entsprechende Überzeugungskraft, auch die verbliebenen Hitzköpfe zu einem generalstabsmäßigen Entflechtungsakt zu bewegen. Nachdem praktisch alle beteiligten Fahrzeuge einschließlich unserem per Rückwärtsgang die möglichst günstigste Stelle eingenommen haben – wir kleben regelrecht an der schmalen Mauer, die uns vom Abhang trennt – kann das entscheidende Nadelöhr, ein Kleintransporter mit Touristen, den Weg Richtung Pieve einschlagen und alles löst sich danach in wenigen Sekunden auf, als sei nichts gewesen.

Gargnano

Hat man die zwanzigminütige Talfahrt von Tignale herunter überstanden, sind es nur noch wenige Kilometer bis ins malerische Gargnano, einer langgezogenen Ortschaft am See. Neben der einzigen Hauptstraße, welche in beide Richtungen vom kleinen viereckigen Hafen abzweigt und an der sich leuchtende Bougainvilleen die Häuserwände hinaufranken, lebt das Städtchen im Wesentlichen von seiner traumhaften Uferkulisse. Ein neuer, vor den alten bis ans Wasser gebauten Häusern verlaufender Holzsteg beherbergt die Terrasse der Pizzeria Al Lago – einen erhabeneren Ort für ein Mittagessen kann man sich kaum vorstellen: Unter uns schwimmen Fische und Enten, über uns prunkt mondän der schmiedeeiserne Balkon des zugehörigen Hotels Riviera. Daneben plätschert der See gegen alte, von grünen Algen überzogene Bruchsteinmauern früherer Fischerhäuser. Wenige Schritte weiter endet der Steg am von Orangenbäumchen umsäumten Porto.

Der weiter südlich gelegene Ortsteil Villa hat ebenfalls einen Hafen: Noch kleiner und beschaulicher und auch hier leuchten die Apfelsinen in greifbarer Höhe und einziges Lokal ist die Bar al Porto, in der uns ein mit Piratentuch und Che-Guevara-Anhänger dekorierter Wirt leicht desinteressiert empfängt. Die Bestellung kommt trotzdem zügig und wir genießen das Fehlen jeglichen Touristenrummels. So ruhig ist es hier, dass selbst die Mole des kleinen Hafens Kinder und Jugendliche bis in die Abendstunden zum Baden animiert.

Der Fußweg in das am südlichen Ende Gargnanos liegende Bogliaco lohnt allein schon wegen der grandiosen Villa Bettoni-Cazzago, auch wenn wir Kopf und Kragen riskieren, als wir irgendwann zwangsläufig auf die stark befahrene Gardesana gelangen, welche das herrschaftliche Gebäude aus dem 18. Jahrhundert und die zugehörige italienische Gartenanlage des Amerigo Vincenzo brutal durchschneidet. Der Uferbereich vor der Seeseite des Palazzo gehört zum Privatbesitz und kann nicht betreten werden, jedoch lässt sich auch von der Seite die prachtvolle und repräsentative Strenge des Anwesens erfassen.

Desenzano

... ist insbesondere in den Abendstunden einen Besuch wert. Die mit 26.000 Einwohnern größte Stadt am Gardasee ist mit seinen teils ausgefallenen Beach Clubs zugleich Zentrum für nächtliche Partygänger. Wir sind zwar heute nur auf der Durchreise, erhalten jedoch durch den abendlichen Corso und die Show auf dem Kreisel vor der Fußgängerzone einen Vorgeschmack: Gut versorgte Söhne lassen in ihren Ferraris und hochpreisigen Caprios zur Unterhaltung ihrer gelangweilten Beifahrerinnen die Reifen quietschen.

Limone sul Garda

… wird als eine der Perlen am Gardasee beschrieben. Auf den alten idyllischen Ortkern am nördlichen Hang trifft das auch zu: Enge Gässchen, malerischer Hafen, Bootsanleger und mittendrin eine wunderschön restaurierte Limonaie. Ab 1997 wurde diese als eines der ersten ehemaligen Zitrusgewächshäuser wieder instand gesetzt und mit allen erdenklichen Arten bepflanzt: Orangen, Pomeranzen, Mandarinen, Zitronen, Kumquats, Zitronatzitronen u.v.a. In der Mitte der liebevoll gepflegten Gartenanlage hat man ein kleines, mehrstöckiges, d.h. der Hanglage angepasstes Museum eingerichtet. Neben den detaillierten Herkunfts- und Verwendungsbeschreibungen der einzelnen Früchte erfahren wir auch einiges über die mühsame Pflege der Zitruspflanzen: Auch wenn der Wasserreichtum rund um den See den Anbau enorm begünstigte, machte die geographische Lage – das nördlichste Anbaugebiet in Europa – umfangreiche Schutzmaßnahmen gegen den Winterfrost erforderlich. Die komplette Anlage wurde noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Brettern und Fenstern verschalt und bei Bedarf sogar künstlich beheizt.

In südlicher Richtung wird Limone zunehmend touristischer: Vom winzigen Porto Vecchio im alten Ortskern führen Bogengänge Richtung Porto Nuovo mit seiner überdimensionierten und beflaggten, aber ansonsten gesichtslosen Uferpromenade. Oberhalb der Gardesana beginnt das moderne, in die alten Olivenhaine hinein gebaute Hotelviertel.

Sirmione

Trotz seines berüchtigten Rufs als Touristenmagnet erster Güte gehört das Städtchen auf der über drei Kilometer langen schmalen Halbinsel zu den Zielen, die man am Lago gesehen haben muss. Und so begeben wir uns an einem sonnigen Samstag auf die mühsame, fast zweistündige Anreise in den Süden – immer auf der nicht enden wollenden Gardesana im Kolonnenverkehr entlang. Neben der sehenswerten Scaligerburg versprechen insbesondere die geheimnisvollen „Grotten des Catull“, die überdimensionalen Überreste einer römischen Villa, einen kurzweiligen Nachmittag. Eine zwischenzeitliche Mittagspause führt uns jedoch zunächst nach

Saló,

einem noblen Badeort am eigenen Fjord. Zwei Stadttore begrenzen die verkehrsberuhigte Einkaufsstraße. Der prächtige Duomo ist so dicht umbaut, dass seine wahren Ausmaße nur vom Ufer aus zu erahnen sind. An selbiges grenzt auch das von einer Säulenhalle gestützte Rathaus. Saló erlangte als Sitz der gleichnamigen faschistischen Republik traurige Berühmtheit, als 1943-45 von hier aus in einer unscheinbaren Villa die Reste des noch von den Deutschen kontrollierten italienischen Territoriums im Norden unter dem von Hitler wieder eingesetzten Duce Mussolini regiert wurden und somit die Judendeportationen eine neue Dimension erreichten.

Gegen 14.00 Uhr kommen wir am sittenwidrig teuren Parkplatz vor den Toren Sirmiones an: 2,20 € pro Stunde kann man gut und gerne als mittlere Frechheit bezeichnen, zumal links und rechts keine Ausweichmöglichkeit besteht und ausnahmslos jeder hier seine Kiste abstellen muss, womit die vor uns liegende trutzige Scaligerburg nach wie vor ihre angestammte Funktion der Wegelagerei erfüllt.

Die sich durch die engen Gässchen wälzenden Touristenmassen lassen ein motorisiertes Fortkommen auch gar nicht zu und so ergreifen wir die Flucht nach vorne, vorbei an ungezählten Eissalons und Boutiquen. Ein Uferweg führt zu den schweflig stinkenden heißen Quellen und dem ‚Strand der Blondinen’, dann direkt zur Landspitze mit dem weitläufigen archäologischen Gelände. Die Kinder von EU-Bürgern haben hier freien Eintritt – das nenne ich doch mal konzertierte europäische Bildungspolitik!

Der Weg führt zunächst durch ein modernes Museum mit Keramikfunden und rekonstruierten Fresken, danach durch einen idyllischen Olivenhain, unter dem sich, wie sich dann heraus stellt, mindestens zwei Ebenen des monumentalen Unterbaus eines Sanatoriums und Thermalbads aus dem 2. Jahrhundert verbergen. Auch wenn von der eigentlichen Villa kaum etwas zu sehen ist – einige Pfeiler und einen Aquädukt hat man wieder aufgestellt – sind die riesigen intakten Bögen und Gewölbe mit ihren pittoresken Durchbrüchen zum smaragdgrünen Wasser des Sees schwer beeindruckend. Knapp unter der Wasseroberfläche ist der Verlauf des von zahllosen Rissen durchsetzten Felsplateaus gut zu erkennen. Leider stört das permanente Getöse der um die Halbinsel herumdüsenden geschätzten zehntausend Motorjachten die ansonsten nahezu perfekte Szenerie.

Auf dem Rückweg nehmen wir die in der Mitte verlaufende Straße und kommen am ehemaligen Wohnhaus von Maria Callas, der wahrscheinlich berühmtesten Bürgerin Sirmiones in der Neuzeit vorbei. Die gegenüber liegende Parkanlage hat man dann konsequenterweise gleich nach der Operndiva benannt.

Eine weitere Pflichtübung ist die Ersteigung der Scaligerburg aus dem 13. Jahrhundert, auf die man nur über eine Zugbrücke gelangt und welche im Mittelalter den Zugang nach Sirmione kontrollierte. Vom Mastino, dem großen Turm, überschauen wir sowohl das unglaublich beengte Städtchen als auch die gesamte Halbinsel.

Großen Spaß haben wir dann noch zum Abschluss auf dem Rückweg, als ein in die Jahre gekommener Gigolo mit Kamera seine auch nicht mehr ganz junge Eroberung auf der Hafenmauer mit Abendkleid und Sonnenbrille im Hollywoodstil posieren lässt.